Schatzfinder
den Mut dazu nicht auf. Ich bin auch so ein Feigling. Die Frau an meiner Seite sagt dann immer: »Dann ist es eben so«. Ich dann: »Blöde Kuh!« Dass es so ist, wie es ist, das ist ja das Schlimme! Immer muss sie recht haben. Aber es stimmt eben.
Es stimmt sogar im Extrem: Als kurz nach Weihnachten 2004 der Meeresboden vor Sumatra bebte, kamen rund um den IndischenOzean etwa 230 000 Menschen ums Leben. Über 100 000 Menschen wurden verletzt. 1,7 Millionen Menschen wurden obdachlos.
Ist der Tsunami nun schlecht? Oder böse? Oder ist es schlecht oder schlimm oder böse, dass diese Menschen von dem Tsunami getötet worden sind? Unser Reflex stimmt einfach nicht. Das Ereignis ist nicht schlecht oder schlimm gewesen, es ist neutral. Es ist.
Die Trauer oder Bestürzung, die wir spüren, hat nichts mit der Flutwelle zu tun oder mit der Zahl der Todesopfer. Weltweit sterben über 5 Millionen Menschen pro Jahr an den Folgen des Rauchens. Über 20-mal mehr als beim Tsunami von 2004. Jedes Jahr! Seien Sie ehrlich: Haben Sie jemals Trauer und Bestürzung gefühlt, weil ständig so viele Menschen durch das Rauchen ums Leben kommen?
Unsere Gefühle haben wohl nichts mit den Opfern der Naturkatastrophe zu tun. Auch nicht damit, dass sie im Gegensatz zu den Rauchern unschuldig waren (obwohl wir mit der Annahme, dass Raucher an ihrem Tod selbst schuld sind, schon wieder eine gewaltige Vorannahme treffen). Alleine schon, dass wir den Tsunami als Katastrophe beschreiben, ist eine Wertung. Die Bewertung folgt unserem jeweiligen Wertesystem. Wir Christen geben dem Leben einen höheren Wert als dem Tod. Es ist nichts als eine Vereinbarung, die wir unter den Menschen und uns selbst gegenüber getroffen haben.
Lassen Sie mich eine Frage stellen. Ich bitte Sie, diese Frage nicht in rechtlicher Hinsicht nach dem Gesetzbuch oder nach dem Strafrecht oder Ähnlichem zu beantworten, sondern ohne die Zuhilfenahme von Paragrafen. Die Frage lautet: »Dürfen Sie einen Menschen umbringen?«
Da kann man jetzt natürlich viel darüber streiten. Natürlich kann man jetzt auch lange mit seinen Gedanken darüber hadern oder nicht hadern, aber von allem einmal abgesehen sage ich: Grundsätzlich dürfen Sie das. Ja, natürlich. Die Frage ist nicht: »Kann ich das, oder will ich das?«, sondern: »Darf ich das?« Dass wir einen Menschen umbringen können, rein technisch gesehen,können wir wahrscheinlich alle bejahen. Dass wir einen Menschen umbringen wollen, können wir wahrscheinlich alle verneinen. Dass wir einen Menschen umbringen dürfen, müssen wir ehrlicherweise ganz grundsätzlich erst mal bejahen. Das ist natürlich mehr als respektlos. Insofern die Frage: Darf ich respektlos sein? Natürlich darf ich auch das. Die entscheidende Frage ist doch letztlich: Will ich das?
Wir dürfen alles. Also sind wir erst mal frei, um zu wählen. Und wer frei wählen kann, hat Freiheit. Aber die Freiheit ist nie alleine auf dieser Welt, sie ist ein untrennbares Paar mit der Verantwortung. Und wenn ich mir die Frage stelle, ob ich die Freiheit dazu habe, dann muss ich auch gleichzeitig wissen, dass ich danach die Verantwortung übernehme. Wer Freiheit hat, hat immer die Verantwortung. Deswegen ist die Frage: Dürfen tue ich zwar alles, aber will ich das auch? Und will ich die Verantwortung tragen?
Für den einen Menschen mit seinem speziellen Wertesystem ist der Tod von 77 Menschen auf der norwegischen Ferieninsel Utoya eine freudige Botschaft, für einen anderen Menschen mit einem anderen Wertesystem ist es ein abscheuliches Massaker, über das wir nur noch heulen könnten. Für die einen waren die Bombeneinschläge in Dresden im Februar 1945 ein voller Erfolg, für die anderen die Hölle. Es ist eine Frage der Bewertung.
Was wäre, wenn wir an die Wiedergeburt und daran glauben würden, dass die 230 000 Tsunami-Toten nun in einer höheren Kaste wiedergeboren werden? Dann wäre das in der Tat eine schöne Nachricht. Sensationell! Die haben es geschafft! Wie schön für sie, sie hätten ja sonst vielleicht viel länger warten müssen auf den Aufstieg, auf ein Leben höherer Qualität.
Und wenn wir den Tod höher bewerten würden als das Leben? Dann würden wir bei jeder Geburt sagen: Au, armer Kerl. Schade dass er auf die Welt gekommen ist. Saublöd. Naja, jetzt ist es halt so, gell?
There is nothing either good or bad, but thinking makes it so
– Shakespeares Hamlet sagte es uns deutlich: Nicht ist gut noch böse, das Denken macht es erst dazu.
So
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