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Schatzfinder

Schatzfinder

Titel: Schatzfinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherer
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zimmern wir uns unsere Realität zurecht. Wir haben vielleicht irgendetwas nicht geschafft. Gut. Aber jetzt sagen wir nicht: Ich habe es nicht geschafft. Sondern wir beginnen zu konstruieren: Ich konnte es ja auch gar nicht schaffen, weil der und der so blöd ist, und der und der hat gesagt und gemacht, und der und der hat mich nicht gelassen und so weiter. Oder wir sagen: Ich konnte es ja gar nicht schaffen, weil ich noch zu jung bin, weil ich einfach zu blöd bin, weil ich ein Versager bin und so weiter. Wir sind Wertemaschinen, wir verknüpfen permanent alles, was um uns herum passiert, mit Bewertungen. Und dann glauben wir allen Ernstes, das sei die Realität. »Es sind nicht die Dinge und Menschen, die uns bewegen, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben«, meinte Epiket sinngemäß.
    Und wir bilden damit wunderschöne Vorurteile aus: Wir glauben beispielsweise, dass es sehr schwer ist, ein Buch zu schreiben. Und damit werden wir recht haben, denn unter dieser Prämisse werden wir uns tatsächlich schwertun. Unser Gehirn ist fortan darauf programmiert, es uns schwerfallen zu lassen, das Buch zu schreiben. Und das bestätigt uns dann in der ursprünglichen Annahme. Und immer weiter im Kreis herum, bis sich das Muster fest in uns eingebrannt hat.
    Mir ist völlig klar, dass wir Bewertungssysteme brauchen. Mehr noch: Wir brauchen in menschlichen Gemeinschaften nicht nur irgendwelche, sondern gemeinsame Wertesysteme. Wir müssen uns darüber einig sein, dass Mord ein Kapitalverbrechen ist, dass Dieben die Hand abgehackt werden soll, dass Ehebrecherinnen gesteinigt werden müssen, dass Kinderschänder nach ein paar Jahren wieder freikommen sollen, dass Witwen sich verbrennen sollten, dass Kannibalismus widerlich ist, dass Nationalsozialisten böse sind. Je nach Kulturkreis. Sobald wir uns über zentrale Werte nicht mehr einig sind, beginnen wir, uns zu bekämpfen und zu bekriegen. Und zwar am Ende buchstäblich bis aufs Blut.
    Also: Bewertungen, Moral und Ethea sind richtig und wichtig, sie sind unverzichtbar. Bitte nicht falsch verstehen. Aber: Die Wertesysteme sind viel zu umfassend, viel zu groß, sie greifen viel zu tief in unsere Leben ein. Wir glauben viel zu viel, was wirnicht dürfen oder sollen. Wir ergeben uns freiwillig in ganze Netze von einengenden
Dos
und
Don’ts
, in die wir uns verstricken.
    Ich habe beispielsweise aus irgendeinem Grund einmal gelernt, dass man die Adresse auf einem Brief bis auf den Namen der Stadt nicht in Großbuchstaben schreiben darf. Fragen Sie mich nicht, warum. Dabei ist es ja offensichtlich völliger Blödsinn. Ich darf Klein- oder Großbuchstaben schreiben, wie ich lustig bin, Hauptsache, die Adresse ist gut lesbar. Aber ich habe diese absurde Annahme befolgt und sie schlicht gar nicht bemerkt. Als ich nach Jahrzehnten draufgekommen bin, dass ich diesen alten Glaubenssatz getrost über Bord kippen kann, war das eine kleine, winzig kleine Befreiung.
    Es wäre eine riesengroße Befreiung für uns alle, wenn wir aufhören würden, das Verhalten von Menschen in unserer Umgebung permanent zu bewerten. Stephen Covey beschreibt eine Geschichte dazu etwa so: Ein Mann fährt mit der U-Bahn. Er hat drei kleine Kinder bei sich. Die Kinder benehmen sich ziemlich daneben, sie tollen rum, schubsen sich und stören damit andere Fahrgäste. Der Vater aber schaut nur apathisch aus dem Fenster und unternimmt nichts. Da platzt einem Fahrgast der Kragen: »Verdammt nochmal, jetzt sammeln Sie endlich Ihre ungezogenen Flegelkinder ein!« Der Mann entgegnet: »Es tut mir leid. Wissen Sie, vor ein paar Stunden ist die Mutter der Kinder gestorben, die Kinder sind noch vollkommen verwirrt.« Sofort schaltet der Fahrgast die Bewertung um: Wenn das so ist, dann dürfen die Kleinen natürlich spielen. Die Armen!
    Alles, was wir über andere Menschen annehmen, wird uns von der toxischen Zwiegesprächstimme eingeflüstert. In der umfangreichen Kommunikation mit uns selbst geht es ständig um Bewertungsfragen. Der ist blöd. Der ist ein Penner. Die ist eine Zicke. Das war jetzt nicht nett. Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich finde das traurig. Schade, dass er das sagt. Ich finde sie unvorsichtig.
    Wenn wir beginnen zu verstehen, warum wir Menschen bewerten und wie wir sie typischerweise bewerten, dann lernen wir viel über uns selbst.
    Wenn wir beginnen zu verstehen, warum wir Menschen bewerten und wie wir sie typischerweise bewerten, dann lernen wir viel über uns selbst, und dann können wir es

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