Schatzfinder
sich mit den Fingern durch die Haare, dass dem Mann der Atem stockt.
Der Mann tut, was man in solchen Situationen zu tun pflegt: Er begleitet die restlichen Gäste zur Tür … inklusive der beiden Damen. Doch, allen Ernstes. Das Teufelchen war zu aktiv, es hatte ruck-zuck 1 000 Gründe gefunden, warum der Vorschlag der Damen nicht umsetzbar war. Der Mann wusste einfach nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Verzweifelt suchte er nach einem Strohhalm, der ihm sagte: So was tut man nicht.
Das wäre ja auch völlig okay – wenn der Mann sich nicht den Rest seines Lebens darüber ärgern würde, dass er an diesem Abend zu viel Rücksicht genommen hat. Ich weiß, wovon ich rede, ichkenne den Mann sehr gut … Und überhaupt: Rücksicht auf was überhaupt?
Über den Dingen
Indem wir vorgegebene oder eingebildete Regeln berücksichtigen, treffen wir Entscheidungen. Und diese Entscheidungen lauten immer: Es bleibt so, wie es war! So weitermachen wie bisher! Nur nichts ändern! Denn jede Änderung wäre ein rücksichtsloser Regelbruch. Und das tut man schließlich nicht!
Wer immer Rücksicht auf die Regeln nimmt, sieht immer zurück, kann nie nach vorne schauen. Rücksicht als Lebensprinzip bedeutet, die Zukunft zu verkaufen und mit ihr alle Erfahrungen, die in einer möglichen Zukunft liegen, die aber unter Berücksichtigung der Umstände außerhalb unseres Erfahrungshorizonts verschollen bleiben.
Eine Theorie ist eine Vermutung mit Hochschulbildung.
Um das zu verdeutlichen, verwenden Motivationstrainer gerne die Metapher der Hummel, die eine Flügelfläche von 0,7 Quadratzentimetern bei 1,2 Gramm Gewicht hat. Laut Theorie der Physik kann ein lebendes Objekt damit nicht fliegen. Eine Theorie ist eine Vermutung mit Hochschulbildung. Die Hummel fliegt trotzdem. Warum? Weil sie das nicht weiß, sie hat nie Physik studiert. Ein schönes Bild, das wie so viele Motivationsmetaphern die Botschaft verdeutlicht – aber dennoch falsch ist.
Jawohl, ich plädiere für mehr Rücksichtslosigkeit! Ich bewundere Menschen wie den Rednerkollegen, der, wann immer er einen Vortrag hält, mit einer anderen Frau im Arm auftaucht. Dabei ist er außerdem glücklich verheiratet. Als ich ihn einmal darauf ansprach, wie er das denn anstellt, sagte er mir lässig: Meine Frau und ich besinnen uns eben auf die Dinge, die uns verbinden, nicht auf die, die uns trennen. So einfach. So unkonventionell. So erfrischend rücksichtslos.
Doch statt ebenso erfrischend und konsequent nach vorne zu leben, schlage ich mich nicht nur mit meinen eigenen Teufelchen auf der Schulter herum, sondern kämpfe auch noch gegen die Rücksicht der Leute um mich herum.
Eine Mitarbeiterin beispielsweise hatte einmal einen Meeting-Raum im Konferenzhotel für eine Besprechung meiner Firma hergerichtet. Sie wusste, dass es uns an diesem Tag besonders wichtig war, dass der Raum gut vorbereitet ist. Kurz vor dem Termin schaute ich hinein: Alles war perfekt bereitgelegt, von den Getränken über die Schreibblöcke bis zu den Gummibärchen. Nur in der einen Ecke stand ein Tisch mit einem Videorekorder und einem großen Fernseher. Ich war verblüfft: »Zeigen wir denn nachher auch Filme?«
»Nein«, sagte sie, »wieso?«
»Na, schau, da steht doch ein Videorekorder!«
»Ach der. Na, der stand schon da.«
Da war es wieder: Rücksicht auf die Umstände, Anpassung an die Gegebenheiten, Survival of the fittest. Der stand schon da. Ja, das war anpassungsfähig, aber genau falsch herum! Als ob sie sich etwas gesucht hätte, an das sie sich in dieser Situation anpassen könnte. Sie hatte einfach nicht verstanden, dass sie durch die Akzeptanz des Gegebenen, also durch ihre Rücksicht, diesen blöden Videorekorder zum Teil ihres Raumkonzepts gemacht hatte. Im Ergebnis machte es keinen Unterschied, ob er schon vorher dastand oder ob sie ihn extra hatte besorgen und aufstellen lassen. So oder so: Er war da und wirkte – er wirkte ablenkend, Platz verbrauchend, Nutzlosigkeit verströmend. Je länger ich ihn anstarrte, desto mehr kochte der Ärger in mir hoch. Und dann stand da noch ein überflüssiger Tisch.
»Warum lässt du den Tisch denn nicht raustragen, wenn wir ihn nicht brauchen?«
»Ach so? Na gut, tragen wir ihn raus.«
Diese Antwort fand ich dann fast noch schlimmer. Wenn sie doch wenigstens eine gute Begründung gehabt hätte, den Tisch drin zu lassen! Aber jetzt passte sie sich schon wieder an, diesmal an die Vorgabe des Chefs …
Wir sind offenbar nicht
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