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Schau Dich Nicht Um

Titel: Schau Dich Nicht Um Kostenlos Bücher Online Lesen
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sich bemühte, Jess konnte nicht um die Säule herumsehen.
    »Es ist meine Schuld«, flüsterte sie Richter Harris zu, der neben ihr saß. »Wenn ich an dem Nachmittag mit ihr zum Arzt gegangen wäre, wie ich’s ihr versprochen hatte, wäre sie nicht verschwunden.«
    Im nächsten Augenblick stand sie auf der Straße und wollte gerade die Treppe zum Haus ihrer Eltern hinaufgehen, als an der Ecke ein weißes Auto hielt und ein Mann ausstieg. Sein Gesicht war im Schatten, seine Arme waren ausgestreckt, als er auf sie zuging. Er
war direkt hinter ihr, als sie wie eine Wahnsinnige die Treppe hinaufraste und die Tür aufriß. Mit fliegenden Fingern suchte sie nach dem Schloß, aber das Schloß war kaputt. Sie spürte, wie an der Fliegengittertür gezogen wurde, wie ihre Finger nachzugeben drohten, und wußte, daß der Tod nur Zentimeter entfernt war.
    Mit einem Ruck fuhr Jess in die Höhe. Ihr Körper war schweißgebadet. Sie atmete in unregelmäßigen, schmerzhaften Stößen.
    Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. »O Gott«, stöhnte sie, als sie Don friedlich neben sich auf dem weißen Teppich schlafen sah. Hinter dem schwarzen Schutzgitter des offenen Kamins flackerten nur noch ein paar winzige Flämmchen. Sie warf die Decke ab, die er offensichtlich über ihnen ausgebreitet hatte. Sie suchte ihre Kleider zusammen und fragte sich, wie sie das, was zwischen ihr und Don geschehen war, hatte zulassen können.
    »Ich liebe dich«, hörte sie ihn immer noch sagen.
    Ich liebe dich auch, hätte sie ihm jetzt gern gesagt, aber das konnte sie nicht, weil sie ihn nicht liebte, jedenfalls nicht auf die gleiche Weise, wie er sie liebte. Sie hatte ihn benutzt, seine Gefühle für sie ausgenützt, seine tiefe Verbundenheit mit ihr; sie hatte die Liebe, die er ihr entgegenbrachte, die er ihr immer entgegengebracht hatte, schamlos ausgenützt. Warum? Nur, um sich ein paar Minuten lang ein wenig besser zu fühlen? Weniger allein? Weniger verängstigt? Nur, um ihn von neuem zu verletzen? Von neuem zu enttäuschen? So wie sie stets jeden, der sie geliebt hatte, verletzt und enttäuscht hatte.
    Mit zitternden Händen begann sie sich anzuziehen. Sie zitterte jetzt vor Kälte, das Atmen fiel ihr so schwer, als hätte sich eine riesige Boa constrictor um sie geschlungen und verstärkte nun allmählich den Druck. Taumelnd stand sie auf und zog sich ihren Pullover über den Kopf, um warm zu werden.
    Sie ließ sich auf das Chesterfieldsofa fallen, das hinter ihr stand, zog die Knie bis an die Brust und umfing sie mit beiden Armen. Eine
beängstigende Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus. »Nein«, flüsterte sie weinend. Sie wollte Don nicht wecken und wünschte doch, daß er von allein aufwachen und sie in die Arme nehmen, die Dämonen vertreiben würde.
    Atme tief durch, ermahnte sie sich, während die tödliche Umschlingung der unsichtbaren Schlange immer unwiderstehlicher wurde und alle Hoffnung auf Luft abschnürte. Sie starrte in die kalten glitzernden Augen der Schlange, sah, wie sie gierig das Maul öffnete, verspürte einen Druck, der ihre Rippen zu sprengen drohte.
    »Nein«, stieß sie atemlos hervor, während sie gegen den Brechreiz ankämpfte, sich gegen ihren imaginären Peiniger zur Wehr setzte. »Nein!«
    Dann sah sie plötzlich Adams Gesicht und hörte seine Stimme »Wehren Sie sich nicht dagegen«, sagte er zu ihr. »Wenn Sie das nächste Mal so eine Attacke haben, gehen Sie einfach mit. Lassen Sie sich gehen.«
    Was meinte er damit?
    »Was ist das Schlimmste, was geschehen kann?« hatte er gefragt.
    »Daß ich mich übergeben muß«, hatte sie geantwortet.
    »Gut, dann übergeben Sie sich eben.«
    Ich habe Angst, dachte sie jetzt.
    »Ich glaube, Sie haben Angst vor dem Tod.«
    Hilf mir. Bitte hilf mir.
    »Schwimmen Sie mit dem Strom«, sagte er. »Kämpfen Sie nicht dagegen an. Gehen Sie einfach mit.«
    Der gleiche Rat, erkannte Jess, den der Wen-Do-Lehrer ihr gegeben hatte.
    Wenn Sie angegriffen werden, dann wehren Sie sich nicht gegen den Angreifer, geben Sie ihm nach.
    Und dann schlagen Sie zu.
    »Gib ihm nach«, wiederholte sie sich immer wieder. »Gib ihm nach. Wehr dich nicht dagegen. Gib ihm nach.«

    Was ist das Schlimmste, was geschehen kann?
    Dann übergeben Sie sich eben.
    Dann sterben Sie eben.
    Beinahe hätte sie gelacht. Sie hörte auf, sich zu wehren, ließ sich von der Panik besetzen. Sie schloß die Augen gegen den Schwindel, der sie ergriff und zu Boden zu stürzen drohte. Sie fühlte

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