Schau Dich Nicht Um
Maryellen.
»Hohh! « rief ihre Tochter zu gleicher Zeit.
»Gut«, sagte Dominic. »Schreien Sie. Alles, was Aufmerksamkeit erregt, ist in so einem Fall gut. Es muß nicht ›Hohh‹ sein, aber es muß laut sein. Aber was passiert, wenn es ihm gelingt, Ihnen die Hand auf den Mund zu drücken oder Ihnen ein Messer an die Kehle zu halten! Dann schreien Sie bestimmt nicht. Was tun Sie dann?«
»In Ohnmacht fallen«, sagte Catarina.
»Nein, Sie werden nicht in Ohnmacht fallen«, versicherte Dominic. »Sie werden - na, was?«
»Ihm nachgeben«, sagte Jess. »Keinen Widerstand leisten. Die Kraft des Angreifers gegen ihn selbst einsetzen.«
»Gut. Versuchen wir gleich einmal ein paar dieser Möglichkeiten.« Er winkte Jess. »Ich packe Sie jetzt, und Sie tun so, als gäben Sie mir nach.« Er faßte Jess’ Hand und zog sie im Zeitlupentempo zu sich heran. »Ja, gut so, folgen Sie meiner Bewegung. So, jetzt sind Sie an mir dran, jetzt stoßen Sie fest zu. So ist es richtig. Setzen Sie mein eigenes Körpergewicht gegen mich ein. Nutzen Sie die Kraft, die ich gebrauche, um Sie an mich zu ziehen, dazu aus, mich wegzustoßen. Stoßen Sie. Gut.« Er ließ Jess’ Hand los. »Wenn Sie den Kerl aus dem Gleichgewicht gebracht haben, dann setzen Sie jede Waffe ein, die Sie zur Verfügung haben, auch Ihre Füße. Treten Sie, beißen Sie, kratzen Sie, schlagen Sie. Einige der Möglichkeiten, die Hände als Waffen einzusetzen, haben wir bereits geübt. Jetzt schauen wir mal, was man mit den Füßen machen kann.«
Jess sah aufmerksam zu, wie Dominic ihnen verschiedene Manöver vorführte.
»Gibt’s nicht auch einen Schleudergriff? Damit wir Sie in die Luft werfen können?« fragte Vasiliki.
Sie lernten Schleudergriffe, sie lernten, bei einem Angriff mit den Schultern zu führen, sie lernten, ihr Körpergewicht einzusetzen. Nach knapp zwei Stunden waren die Frauen fast am Ende ihrer Puste, aber nicht am Ende ihrer Kampfeslust.
»Okay, jetzt schauen wir mal, wie Sie das umsetzen«, sagte Dominic. »Bilden Sie Zweiergruppen. Vas, tun Sie sich mit Maryellen zusammen; Ayisha mit Catarina. Und Sie«, sagte er und wies auf Jess, »kommen zu mir.«
Jess ging zaghaft ein paar Schritte auf Dominic zu. Plötzlich packte er sie und zog sie zu sich heran. »Hohh! « schrie sie laut und hörte, wie ihr Schrei den Saal füllte, während sie sich instinktiv zurückwarf. Verdammt, dachte sie, wie oft muß man es mir noch sagen? Geh mit ihm. Leiste keinen Widerstand. Gib ihm nach.
Sie ließ sich von ihm vorwärtsziehen, und als ihr Körper gegen den seinen prallte, stieß sie ihn mit aller Wucht von sich, stellte ihm ein Bein und rammte ihm die Schulter in den Leib, um ihn zu Fall zu bringen, ehe sie mit ihm zu Boden stürzte.
Ich habe es geschafft, dachte sie triumphierend. Sie hatte ihrem Angreifer scheinbar nachgegeben, seine überlegene Körperkraft gegen ihn selbst gewendet, ihn flachgelegt. Sie hatte bewiesen, daß sie doch nicht so wehrlos und leicht verletzlich war. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte laut heraus.
Plötzlich tippte ihr jemand an die Stirn. Sie drehte sich herum und sah den lächelnden Dominic, der ihr den Zeigefinger der rechten Hand wie einen Pistolenlauf an die Schläfe drückte. Sein aufgestellter Daumen klappte um und richtete sich wieder auf, als drückte er auf einen unsichtbaren Abzug. »Peng«, sagte er ruhig. »Sie sind tot.«
22
V erdammt, verdammt, so ein Mist.« Jess schimpfte immer noch or sich hin, als sie die Willow Street hinunterging. Wie konnte sie nur so blöd sein, ihre Zeit, ihre kostbaren Samstagnachmittage, einen der wenigen freien Nachmittage, die sie überhaupt hatte, wie konnte sie so blöd sein, ihre sauer verdiente Freizeit an einen Selbstverteidigungslehrgang zu verschwenden, nur um sich vormachen zu können, sie sei unverletzlich, obwohl sie doch in Wahrheit keinem gewachsen war, der wirklich entschlossen war, ihr Schaden zu tun. Ein noch so lautes »Hohh!« würde gegen eine Armbrust nichts ausrichten, eine Adlerklaue ins Auge kam gegen eine Kugel in den Kopf nicht an. Da hatte sie sich eins weggebrüllt, hatte sich eingebildet, unbesiegbar und allmächtig zu sein, und dabei genügten zwei Finger, um ihre Illusionen in Fetzen zu reißen. Unbesiegbarkeit und Allmacht gab es nicht. Sie war so verletzlich wie jeder andere.
In der nächsten Woche, hatte Dominic ihnen versprochen, in der nächsten Woche würde er ihnen zeigen, wie man einen mit Messer oder Pistole drohenden
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