Schau Dich Nicht Um
sehen.
»Das finde ich gut, daß ihr diesen Kurs zusammen macht«, sagte Vas gerade, als noch eine Frau hereinkam, klein und dicklich, nicht mehr ganz jung, mit graugesprenkeltem Haar. Sie zupfte nervös an ihrem blauen Kittel.
»Vasiliki, nennen Sie mich einfach Vas«, begrüßte Vas sie sofort. »Das sind Jess, Maryellen und Ayisha.«
»Catarina Santos«, sagte die Frau zaghaft, als wäre sie sich ihres eigenen Namens nicht sicher.
»Das ist ja hier fast wie bei der UNO«, sagte Vas scherzhaft.
»Stimmt«, bestätigte Jess. »Und alle sind wir hier, um die alte orientalische Kunst des Wen-Do zu erlernen.«
»Ach, alt ist die Kunst nicht«, korrigierte sie Vas. »Wen-Do ist erst vor zwanzig Jahren von einem kanadischen Ehepaar entwickelt worden. Ausgerechnet in Toronto. Ist das nicht urkomisch?«
»Was, wir lernen eine Selbstverteidigungstechnik, die in Kanada entwickelt worden ist?« fragte Jess ungläubig.
»Sie setzt sich anscheinend aus Elementen aus Karate und Aikido zusammen. Weiß jemand von euch, was Aikido ist?« fragte Vas.
Niemand wußte es.
»Das Bestimmende beim Wen-Do sind Bewußtheit, Vermeidung und Handeln«, erklärte Vas und lachte dann verlegen. »Ich hab die Broschüre auswendig gelernt.«
»Für Handeln bin ich immer zu haben«, sagte Ayisha, während Catarina scheu zur Spiegelwand zurückwich.
Noch einmal teilte sich der Vorhang, und ein junger Mann mit einer dunklen Haartolle und ausgesprochen selbstbewußtem Gang trat auf die Frauengruppe zu. Er war nicht sehr groß, die Muskeln seiner kraftvollen Arme waren sogar durch den blauen Kittel hindurch zu erkennen. Sein glattrasiertes Gesicht hatte etwas Jungenhaftes, an der Nasenwurzel, neben der rechten Augenbraue, hatte er eine kleine Narbe, wahrscheinlich das Überbleibsel einer Windpokkenerkrankung in der Kindheit.
»Guten Tag«, sagte er, hörbar aus dem Zwerchfell sprechend. »Ich bin Dominic, Ihr Lehrer.«
»Komisch«, flüsterte Vas Jess zu, »er sieht gar nicht nach Wen-Do aus.«
»Wer von Ihnen glaubt, sie könnte einen Angreifer abwehren?« fragte er, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf kerzengerade.
Die Frauen schwiegen.
Dominic ging langsam auf Maryellen und ihre Tochter Ayisha zu. »Wie steht’s mit Ihnen, Mama? Glauben Sie, Sie könnten einem Kerl die Nase brechen, wenn er Ihre Tochter angreifen sollte?«
»Der kann froh sein, wenn sein Kopf noch an ihm dran ist«, behauptete Maryellen resolut.
»Nun, beim Wen-Do geht es darum«, sagte er, »daß Sie erkennen, daß Sie genauso wertvoll sind wie jedes Kind in Ihrem Leben, das Sie lieben. Wertvoll«, fuhr er fort und legte um der Wirkung willen eine kleine Pause ein, »aber nicht wehrlos. Jedenfalls nicht mehr so leicht wehrlos wie vorher. Sie mögen schwächer sein als Ihre Angreifer«, sagte er und sah die Frauen der Reihe nach an, »aber Sie sind nicht ohn-mächtig, und Ihre Angreifer sind nicht all-mächtig. Es ist sehr wichtig, daß Sie den Angreifer nicht als einen gewaltigen, unerschütterlichen Brocken sehen; Sie müssen ihn vielmehr als ein Wesen mit vielen verletzlichen Angriffspunkten sehen. Und vergessen Sie eines nicht«, sagte er und sah dabei Jess an. »Zorn und Wut
sind in den meisten Fällen weit wirkungsvoller als Bitten und Betteln. Fürchten Sie sich also nicht, zornig zu werden.«
Jess begannen die Knie zu zittern, und sie war froh, als er sich einer der anderen Frauen zuwandte. Sie musterte die verschiedenen Gesichter, die den Wandel der Stadt in den vergangenen zwanzig Jahren so deutlich dokumentierten. Mit dem Chicago ihrer Kindheit war diese Stadt kaum noch zu vergleichen, dachte sie und floh vorübergehend in die lilienweiße Vergangenheit. Erst Dominics energische Stimme holte sie in die Gegenwart zurück.
»Sie müssen lernen, Ihrem Gefühl zu trauen, wenn Sie Gefahr wittern«, sagte er gerade. »Selbst wenn Sie nicht genau wissen, wovor Sie eigentlich Angst haben, selbst wenn Sie nicht wissen, was Sie nervös macht, selbst wenn Sie fürchten, einem Mann Unrecht zu tun, bei dem Sie nicht ganz sicher sind, ob er Sie bedroht oder nicht, ist es am besten, wenn Sie sich so schnell wie möglich entfernen. Die Verleugnung der eigenen Gefühle kann einen teuer zu stehen kommen. Vertrauen Sie also Ihren Instinkten«, sagte er, »und verschwinden Sie, so schnell Sie können.«
Wenn Sie können, fügte Jess im stillen hinzu.
»Schnell davonlaufen ist für Frauen in den meisten Fällen das beste«, schloß Dominic. »Okay, stellen Sie
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