Schau mir ins Herz
um!“
Carol spürte, wie die Wut bei seinem kommandierenden Ton in ihr hochschoss. Erst als er gleichauf mit ihr war, wandte sie ihm das Gesicht zu.
„Du kannst es nicht lassen, anderen Menschen Befehle zu erteilen, nicht wahr?“, schleuderte sie ihm entgegen. „Seit dem ersten Moment, als du in mein Leben eingedrungen bist, diktierst du mir, was ich tun soll. ‚Du springst für die Hauptdarstellerin ein.‘ ‚Du bleibst in diesem Turm.‘ ‚Du wirst mich heiraten.‘ ‚Du wirst einer Scheidung zustimmen.‘“ Flüchtig ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Nicolas und sie gerade zum ersten Mal ebenbürtige Gegner waren. Trotzdem fühlte es sich merkwürdig an, so heftig mit ihm zu streiten. „Wann ich zurückschwimme, entscheide ich“, setzte sie trotzig hinzu.
„Tu es jetzt“, erwiderte Nicolas bestimmt und packte sie bei der Schulter.
Voller Zorn holte Carol aus, um nach ihm zu schlagen, doch er fing ihre Hand ab und hielt sie fest.
Carol trat Wasser und schlug mit der anderen Hand auf ihn ein, nur noch von dem Gedanken beherrscht, sich aus seinem schraubstockartigen Griff zu befreien.
„Willst du ertrinken?“, glaubte sie Nicolas plötzlich sagen zu hören, dann fühlte sie den Druck seiner beiden Hände auf ihren Schultern und schluckte Wasser, als sie unterging.
Für einen kurzen, panikartigen Moment glaubte sie, er wolle sie umbringen. Sich ihrer auf eine leichtere, schnellere Art entledigen, als es ihm mit einer Scheidung möglich war. Als sie prustend an die Oberfläche kam, hatte er sie in den klassischen Rettungsgriff genommen und schwamm mit kräftigen Beinschlägen auf den Strand zu. Der Himmel hatte sich bezogen, die Sonne war hinter dunklen Wolken verschwunden.
Als Nicolas seinen Griff endlich lockerte, hatte Carol Grund unter den Füßen. „Du kennst nichts anderes als brutale Selbstdurchsetzung“, schrie sie ihn an.
Sie standen in knietiefem Wasser, auf dessen Oberfläche auf einmal vereinzelte kleine silbrige Pfützen erschienen.
„Da draußen wärst du ertrunken“, erwiderte Nicolas außer Atem. „Du hast keine Ahnung, wie plötzlich Unwetter hier vor der Küste aufziehen können.“
„Und, wäre dir das nicht hervorragend zupass gekommen?“, fragte sie aufsässig. „Kein Kind mehr, keine Frau, die dich und deinen verdammten guten Namen vor den Scheidungsrichter zerrt?“
Die Zahl der silbrigen Pfützen um sie herum nahm rasch zu, und Carol erkannte verwundert, dass es Regentropfen waren.
Nicolas machte eine Bewegung auf sie zu und schien sich im letzten Moment zurückzuhalten. „Sag das nie wieder“, äußerte er mühsam beherrscht.
„Warum nicht?“, provozierte sie ihn. „Du willst mich aus dem Weg haben. Was schert es dich, ob ich in England oder auf dem Meeresboden lande? Kein Mensch würde dir einen Vorwurf machen, wenn ich ertrunken wäre. Jeder hätte gesagt, dass es meine eigene Schuld war, nicht deine.“
Das Meer war nun bleigrau. Der Wind peitschte die Wellen auf den Strand, und der Regen pladderte auf sie hernieder.
„Ich will nicht, dass du nach England gehst“, sagte Nicolas rau. „Das wollte ich nie. Ich dachte nur immer, du wolltest es – die ganze Zeit. Ich dachte, du wolltest mich los sein und in deine Heimat zurückkehren. Zu den Menschen, die du kennst und die dir vertraut sind.“
„Als ob du mich je gefragt hättest, was ich wollte!“ Carol war so wütend, dass sie kaum sprechen konnte. „Wann, in der ganzen Zeit, die wir uns kennen, hat es dich auch nur ein einziges Mal gekümmert, was ich will oder fühle?“
„Glaubst du das wirklich? Dass du mir gleichgültig bist?“, fragte Nicolas leise zurück. Seine Stimme war angespannt. „Carol, bitte, du irrst dich. Hör mir zu …“
„Nach der Hochzeit“, fuhr Carol aufgebracht fort, ohne seinen Einwurf zu beachten, „nachdem du mir so eindrücklich klargemacht hattest, dass ich dir nichts bedeute – selbst danach ist es mir gelungen, ein einigermaßen zufriedenes Leben zu führen. Da war Tante Lucia, da waren ihre Projekte mit den einheimischen Kunsthandwerkern, Anna und Cassar, die mich mochten, der palazzo, in dem ich mich zu Hause fühlte – und dann, heute Morgen …“ Carol verstummte, ihre Schultern sanken kraftlos herunter. Als sie weitersprach, war keine Wut, sondern nur noch Traurigkeit in ihrer Stimme. „Mir bleibt nichts mehr, nachdem du mir heute Morgen eröffnet hast, dass du mich loswerden willst.“
„Geh nicht fort“, sagte Nicolas rau.
Weitere Kostenlose Bücher