Scheherazade macht Geschichten
Dunkelheit. Der massige Körper des Dieners paßte ohne Probleme in den geheimen Korridor, der fast so breit war wie der offizielle Gang, neben dem er verlief. Hinter den beiden schloß sich der Eingang wieder lautlos.
»Diese Korridore wurden in ferner Vergangenheit angelegt, als dieser Palast erbaut wurde«, erklärte Omar mit leiser Stimme, »und sie wurden mit den ausgeklügelsten und kompliziertesten Vorrichtungen ausgestattet. Im Laufe der Jahrhunderte ist der Zweck vieler dieser Vorrichtungen allerdings in Vergessenheit geraten.«
Scheherazade war beeindruckt. Egal, welche Gefühle sie diesem fetten Burschen auch entgegenbringen mochte, er war der ideale Führer durch diesen zweiten, geheimen Palast. Wenn sie nur nicht so oft an jenen tapferen, stattlichen – und mittlerweile ohne Zweifel dahingeschiedenen – Wachposten hätte denken müssen!
Und jede Hoffnung, die sie vielleicht noch gehegt hatte, wurde im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Schlag zunichte gemacht, als sie den Ausrufer rufen hörte: »König Shahzaman wird nun seinem Mißfallen Ausdruck verleihen, indem er mit seinem Schwert... halt, einen Augenblick bitte.« Und fast im selben Augenblick ertönte ein lauter Schrei.
»Oh, nein!« rief Scheherazade.
»Bitte«, ermahnte Omar sie, »wir müssen leise sein. Wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr beobachten, was vor sich geht. Nicht weit von hier gibt es eine geeignete Stelle.« Er deutete auf ein zartes Gitterwerk, wie es viele in den Gängen und Gemächern dieses Palastes gab. Zwischen den kunstvoll geschnitzten Stäben in Form von Bäumen und Vögeln war genug freier Raum, um hindurchzuspähen und zu sehen, was sich in den Gemächern und Gängen dahinter abspielte. Scheherazade fragte sich, ob möglicherweise hinter jedem dekorativen Gitterwerk dieses Palastes ein Geheimgang verborgen lag.
Die Geschichtenerzählerin sah in eben dem Moment auf den Gang hinaus, als das Gefolge des Königs vorbeizog. Und als sie den Mann zu Gesicht bekam, der die anderen anführte, erkannte sie sofort an dessen königlicher Haltung, an seiner Ähnlichkeit mit seinem Bruder und an der Krone auf seinem Kopf, daß dies niemand anderes als König Shahzaman sein konnte.
Und dann setzte Scheherazades Herzschlag für einen Moment aus, denn unmittelbar hinter ihm schritt der tapfere und aufopferungsvolle Wachposten einher!
»Weißt du, ich mußte einfach jemanden hinrichten«, erklärte der König. Hassan beeilte sich, ihm zuzustimmen.
»Ach, es ist nun einmal nicht leicht, ein König zu sein«, fuhr Shahzaman fort. »Der Tag ist einem einfach verdorben, wenn man kein Blut vergießen kann, wenn du verstehst, was ich meine.« Er klopfte dem Wachposten auf die Schulter. »Aber du bist der einzige, der sich hier im Palast auskennt! Wie hätte ich dich da töten können? Wie sagt schon der weise Mann: Schlage nicht die Hand ab, die dich füttert. Obwohl ich dir natürlich eher den Kopf abgeschlagen hätte. Hahah! Ganz abgesehen davon, ging der Ausrufer mir langsam auf die Nerven. Seine Stimme war entschieden zu schrill, oder ?«
Hassan, der den Umgang mit königlichen Hoheiten gewöhnt war, nickte zustimmend.
»Nun, wo sind die Gemächer meines Bruders?« fragte Shahzaman.
»Unmittelbar vor Euch«, erwiderte der Wachposten mit gewohnt fester Stimme. »Ich muß Euch jedoch darauf hinweisen, daß es dort vor kurzem zu einigen bösen Streitigkeiten gekommen ist.«
»Streitereien?« wiederholte Shahzaman wütend. »Ich werde jeden töten, der den Frieden dieses Palastes stört. Wer steckt hinter dieser Sache?«
Diesmal schien Hassan die Antwort schwerzufallen. »Auch wenn es mich den Kopf kosten mag, so muß ich Euch doch leider mitteilen, daß einer der Hauptverantwortlichen Eure Mutter ist.«
»Oh, schade«, erwiderte Shahzaman enttäuscht. »Ich nehme an, ich kann nicht so einfach meine Mutter hinrichten. Oder meinen Bruder. Zumindest nicht ohne guten Grund. War denn niemand sonst an dem Streit beteiligt?«
»Nun, ich könnte schwören, daß ich noch die Stimme einer anderen Frau hörte, obwohl kein menschliches Wesen meinen Posten passiert hat.«
»Eine andere Frau?« meinte Shahzaman und klang schon wieder etwas zufriedener. »Nun, wollen wir hoffen, daß die Verwandtschaft uns da nicht auch noch einen Strich durch die Rechnung macht.« Er seufzte. »Manchmal können Verwandte einem wirklich jeden Spaß verderben.«
Scheherazade schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht gelang es Shahzaman ja tatsächlich, eines der
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