Scheintot
Stirn. »Immerhin hat sie sich jetzt gemeldet – wenn auch nicht bei uns.«
Es ist wirklich drückend heiß hier drin, dachte Maura, als sie Stillmans hochrotes Gesicht sah. Und es wird im Lauf des Tages noch viel heißer werden. Sie merkte, dass sie schon leicht schwankte, und ihr war klar, dass sie es in diesem Container nicht sehr viel länger aushalten würde. »Ich brauche etwas frische Luft«, sagte sie. »Kann ich gehen?«
Stillman warf ihr einen zerstreuten Blick zu. »Ja. Ja, gehen Sie nur. Aber warten Sie – haben wir Ihre Kontaktdaten?«
»Captain Hayder hat meine Privat- und meine Handynummer. Sie können mich rund um die Uhr erreichen.«
Sie ging hinaus und blieb blinzelnd in der Mittagssonne stehen. Benommen ließ sie den Blick über das Chaos in der Albany Street schweifen. Dies war die Straße, über die sie jeden Morgen zur Arbeit fuhr; derselbe Blick, der sich ihr jeden Morgen bot, wenn sie sich der Einfahrt des Rechtsmedizinischen Instituts näherte. Jetzt war alles mit einem Knäuel von Einsatzfahrzeugen verstellt, zwischen denen Beamte des Sondereinsatzkommandos in ihren schwarzen Uniformen umherwuselten. Alles wartete auf den nächsten Schritt der Frau, die diese Krise ausgelöst hatte. Eine Frau, deren Identität ihnen allen immer noch ein Rätsel war.
Sie ging auf ihr Institut zu, schlängelte sich an geparkten Streifenwagen vorbei und schlüpfte unter einem Polizei-Absperrband hindurch. Erst als sie sich wieder aufrichtete, erblickte sie die bekannte Gestalt, die auf sie zukam. In den zwei Jahren, die sie Gabriel Dean nun schon kannte, hatte sie ihn noch nie wirklich aufgewühlt erlebt und überhaupt nur selten irgendeine starke Gefühlsregung bei ihm beobachtet. Doch die Miene des Mannes, den sie nun vor sich sah, war von schierer Panik gezeichnet.
»Hast du schon irgendwelche Namen gehört?«, fragte er.
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Namen?«
»Die Geiseln. Wer ist alles in dem Gebäude?«
»Ich habe sie bislang erst einen Namen nennen hören. Den einer Ärztin.«
»Wer?«
Sie stockte, betroffen durch seine Heftigkeit. »Eine gewisse Dr. Tam. Mit ihrem Handy wurde der Radiosender angerufen.«
Er wandte sich um und starrte das Klinikgebäude an.
»O mein Gott.«
»Was ist denn?«
»Ich kann Jane nicht finden. Sie ist nicht mit den anderen Patienten auf ihrer Etage evakuiert worden.«
»Wann ist sie ins Krankenhaus gegangen?«
»Heute Morgen, nachdem ihre Fruchtblase geplatzt war.« Er sah Maura verzweifelt an. »Es war Dr. Tam, die sie eingewiesen hat.«
Maura starrte ihn an, und plötzlich fiel ihr ein, was sie soeben in der mobilen Einsatzzentrale gehört hatte. Dass Dr. Tam auf dem Weg in die Bilddiagnostik gewesen sei, wo eine Patientin auf sie wartete.
Jane. Die Ärztin war auf dem Weg zu Jane.
»Ich glaube, du kommst besser mit mir«, sagte Maura.
8
Ich bin ins Krankenhaus gekommen, um mein Baby zur Welt zu bringen. Und stattdessen kriege ich jetzt vielleicht eine Kugel in den Kopf
gejagt.
Jane saß auf der Couch, eingezwängt zwischen Dr. Tam zu ihrer Rechten und dem schwarzen Pfleger zur Linken. Sie konnte spüren, wie er zitterte, seine Haut an ihrem Arm, feuchtkalt und klebrig in der klimatisierten Luft des Wartezimmers. Dr. Tam saß vollkommen regungslos da, ihr Gesicht wie eine steinerne Maske. Auf der anderen Couch kauerte die Empfangsschwester, die Arme um die Brust geschlungen, während die Ultraschallassistentin an ihrer Seite leise vor sich hin weinte. Niemand wagte es, auch nur ein Wort zu sprechen; die einzigen Geräusche kamen von dem Fernseher im Wartezimmer, der schon die ganze Zeit lief. Jane blickte sich um und las die Namensschilder auf den Uniformen. Mac. Domenica. Glenna. Dr. Tam. Dann sah sie auf das Patientenarmband hinunter, das sie selbst am Handgelenk trug. RIZZOLI, JANE. Wir sind alle schon fein säuberlich etikettiert fürs Leichenschauhaus. Ihr werdet keine Mühe haben, uns zu identifizieren, Leute. Sie stellte sich vor, wie die Bostoner am nächsten Morgen ihre
Tribune
aufschlugen und die in fetten schwarzen Lettern gedruckten Namen lasen. DIE OPFER DES GEISELDRAMAS IN DER ALBANY STREET. Sie dachte an die Leser, die den letzten Namen, »Rizzoli, Jane«, rasch überfliegen und dann gleich zum Sportteil weiterblättern würden.
Sollte das wirklich das Ende sein? Nur weil sie dummerweise zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war? Moment mal, wollte sie rufen, ich bin schwanger! Im Kino wird die schwangere Geisel doch
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