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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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dachte sie. Mein Mann sollte hier sein. Ich brauche ihn.
    Und hört endlich auf, mich Mom zu nennen.
    »Wenn Sie die nächste Wehe spüren«, sagte der Arzt, »dann müssen Sie ordentlich pressen, okay? Und nicht lockerlassen.«
    »Kann nicht mal jemand anrufen?«, sagte Jane. »Ich muss wissen, was mit Gabriel ist.«
    »Zuerst müssen wir mal Ihr Baby auf die Welt bringen.«
    »Nein, zuerst müssen Sie mal tun, was ich will! Sie müssen – Sie müssen …« Jane sog die Luft durch die Zähne ein, als eine neue Wehe sie überkam. Mit den Schmerzen erreichte auch ihre Wut den Höhepunkt. Warum hörten diese Leute ihr nicht zu?
    »Pressen, Mom! Sie haben es fast geschafft!«
    »Oh – verdammt…«
    »Kommen Sie.
Pressen.
«
    Sie schnappte nach Luft, als der Schmerz sie wie mit glühenden Zangen packte. Aber es war die Wut, die ihr half durchzuhalten, die sie mit so wilder Entschlossenheit weiterpressen ließ, dass ihr ganz schwarz vor Augen wurde. Sie hörte nicht das Zischen, mit dem die Schiebetür sich öffnete, und sie sah auch nicht, wie der Mann in der blauen OP-Kleidung lautlos hereinschlüpfte. Mit einem Schrei sank sie auf das Bett zurück und rang heftig nach Luft. Da erst erblickte sie ihn – die Silhouette seines Kopfes hob sich gegen das grelle Licht ab, als er sich zu ihr hinabbeugte.
    »Gabriel«, flüsterte sie.
    Er nahm ihre Hand und strich ihr übers Haar. »Ich bin hier. Ich bin hier bei dir.«
    »Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht mehr, was passiert ist …«
    »Das ist jetzt nicht wichtig.«
    »Doch, das ist es. Ich muss es wissen.«
    Die nächste Wehe war schon im Anmarsch. Sie holte tief Luft und umfasste seine Hand. Klammerte sich daran fest wie eine Frau, die über einem gähnenden Abgrund hängt.
    »Pressen«, sagte der Arzt.
    Ächzend krümmte sie sich zusammen, alle Muskeln zum Zerreißen gespannt, bis der Schweiß ihr in die Augen rann.
    »So ist’s gut. Fast geschafft …«
    Komm schon, Baby. Musst du denn immer so verdammt stur sein? Jetzt hilf deiner Mama mal ein bisschen!
    Ein Schrei steckte in ihrer Kehle fest; sie glaubte schon, es würde sie zerreißen, wenn sie ihn nicht herausließ. Und dann spürte sie plötzlich, wie etwas zwischen ihren Beinen hervorquoll. Hörte wütendes Geschrei wie das Kreischen einer Katze.
    »Wir haben sie!«, sagte der Arzt.
    Sie!
Gabriel lachte. Seine Stimme war heiser, tränenerstickt. Er drückte Jane einen Kuss auf die Haare. »Ein Mädchen. Wir haben ein kleines Mädchen.«
    »Und Temperament hat sie«, meinte der Arzt. »Schauen Sie mal.«
    Jane drehte den Kopf und sah winzige Fäuste, die wild in der Luft herumfuchtelten, ein Gesichtchen, leuchtend rosa vor Zorn. Und dunkle Haare – jede Menge dunkler Haare, die in feuchten Löckchen am Schädel klebten. Ergriffen sah sie zu, wie die Schwester den Säugling abtrocknete und in eine Decke hüllte.
    »Möchten Sie sie halten, Mom?«
    Jane brachte kein Wort hervor; ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte nur staunend die Augen aufreißen, während das Bündel ihr in den Arm gelegt wurde. Als sie auf das vom Schreien ganz angeschwollene Gesicht hinabblickte, begann das Baby, sich zu winden, als wollte es sich unbedingt aus der Decke befreien. Aus den Armen seiner Mutter.
    Bist du wirklich mein Baby?
Sie hatte sich vorgestellt, dass dies ein Augenblick sofortiger Vertrautheit sein würde, dass sie nur ihrem Neugeborenen in die Augen schauen müsste und die Seele darin erkennen würde. Aber da wollte sich kein Gefühl von Vertrautheit einstellen, als sie sich nun unbeholfen mühte, das zappelnde Bündel zu besänftigen. Alles, was sie sah, wenn sie ihre Tochter betrachtete, war ein wütendes kleines Wesen mit verquollenen Augen und geballten Fäustchen. Ein Wesen, das plötzlich in lautes Protestgeheul ausbrach.
    »Sie haben ein wunderschönes Baby«, sagte die Schwester. »Ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.«

22
    Als Jane erwachte, strömte helles Sonnenlicht durch das Fenster ihres Klinikzimmers. Ihr Blick fiel auf Gabriel, der auf der Liege neben ihrem Bett schlief, und sie entdeckte graue Strähnen in seinen Haaren, die ihr zuvor nie aufgefallen waren. Er trug noch immer das zerknitterte Hemd vom Vorabend, dessen Ärmel mit Blut befleckt waren.
    Wessen Blut?
    Als hätte er gespürt, dass sie ihn anschaute, schlug er die Augen auf und blinzelte gegen die Sonne zu ihr herüber.
    »Guten Morgen, Daddy«, sagte sie.
    Er schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Ich glaube, Mummy

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