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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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dich.«
    »Also nein, so was«, meinte Angela, als Gabriel das Zimmer verlassen hatte, und schüttelte missbilligend den Kopf.
    »Ich fasse es nicht.«
    »Was denn, Mom?«
    »Er lässt seine Frau und sein neugeborenes Kind einfach allein und rennt los, um zuzusehen, wie irgendeine Leiche aufgeschnitten wird?«
    Jane blickte auf ihre Tochter hinab, die immer noch schreiend und mit hochrotem Gesicht in ihren Armen lag, und seufzte.
Ich wünschte nur, ich könnte mit ihm gehen.
     
    Als Gabriel endlich den Seziersaal betrat, angetan mit Schutzkittel und Schuhüberziehern, hatte Maura bereits das Brustbein herausgehoben und griff soeben in die geöffnete Brusthöhle. Sie und Yoshima verloren kein unnötiges Wort, während sie mit dem Skalpell Blutgefäße und Bänder durchtrennte, um Herz und Lungen freizulegen. Sie arbeitete mit lautloser Präzision, und die Augen über der Maske verrieten keine Gefühlsregung. Hätte Gabriel sie nicht schon so gut gekannt, er hätte ihre klinische Effizienz als geradezu beängstigend empfunden.
    »Du hast es also doch geschafft«, sagte sie.
    »Habe ich etwas Wichtiges verpasst?«
    »Bis jetzt keine Überraschungen.« Sie blickte auf Olena herab. »Derselbe Raum, derselbe Körper. Merkwürdige Vorstellung, dass ich diese Frau nun schon zum zweiten Mal hier im Leichenschauhaus habe.«
    Nur dass sie diesmal tot bleiben wird, dachte Gabriel.
    »Und wie geht es Jane?«
    »Gut. Im Moment werden ihr höchstens die Scharen von Besuchern ein bisschen zu viel, denke ich.«
    »Und das Baby?« Sie ließ die rosafarbenen Lungen in eine Schüssel gleiten. Lungen, die sich nie wieder mit Luft füllen oder Blut mit Sauerstoff anreichern würden.
    »Ein Prachtexemplar. Sieben Pfund und dreihundertsiebzig Gramm, zehn Finger und zehn Zehen. Sie gleicht Jane aufs Haar.«
    Zum ersten Mal zuckte ein Lächeln um Mauras Augenwinkel. »Wie heißt sie?«
    »Im Moment noch ›Baby Rizzoli-Dean‹.«
    »Na, das wird sich doch hoffentlich bald ändern.«
    »Ich weiß nicht. Ich könnte mich fast daran gewöhnen.«
    Es kam ihm irgendwie respektlos vor, über dieses freudige Ereignis zu plaudern, während zwischen ihnen eine tote Frau auf dem Tisch lag. Er dachte daran, wie seine neugeborene Tochter ihre ersten Atemzüge tat, ihre ersten verschwommenen Eindrücke von der Welt sammelte, während Olenas Körper zur gleichen Zeit langsam erkaltete.
    »Ich schaue heute Nachmittag mal bei ihr im Krankenhaus vorbei«, sagte Maura. »Oder leidet sie schon an einer Überdosis von Besuchern?«
    »Glaub mir, du wirst immer zu denen gehören, die ihr ehrlich willkommen sind.«
    »War Detective Korsak schon da?«
    Er seufzte. »Ja, mit Luftballons und allem drum und dran. Der gute alte Onkel Vince.«
    »Lästere nicht so viel über ihn. Vielleicht meldet er sich ja mal freiwillig zum Babysitten.«
    »Das braucht so ein Baby ja auch unbedingt – jemanden, der ihm die hohe Kunst des lautstarken Rülpsens beibringt.«
    Maura lachte. »Korsak ist ein guter Kerl. Wirklich.«
    »Ja, wenn er nur nicht in meine Frau verliebt wäre.«
    Maura legte das Skalpell hin und sah ihn an. »Dann will er doch sicher, dass sie glücklich ist. Und er kann sehen, dass ihr beide es zusammen seid.« Während sie das Skalpell wieder zur Hand nahm, fügte sie hinzu: »Du und Jane, ihr gebt Leuten wie mir Hoffnung.«
    Leuten wie mir.
Also allen einsamen Menschen auf dieser Welt, dachte er. Es ist noch nicht lange her, da habe ich auch zu ihnen gehört.
    Er sah Maura zu, wie sie die Koronararterien durchtrennte. Wie gelassen und ruhig sie das Herz einer Toten in der Hand hielt. Mit dem Skalpell schnitt sie die Herzkammern auf, legte sie bloß, um sie zu inspizieren. Das Herz einer anderen Frau konnte sie untersuchen, messen und wiegen. Doch ihr eigenes Herz schien Maura Isles stets sicher unter Verschluss zu halten.
    Sein Blick fiel auf das Gesicht der Frau, die sie alle nur als Olena kannten. Noch vor wenigen Stunden habe ich mit ihr gesprochen, dachte er, und diese Augen haben meinen Blick erwidert, haben mich wahrgenommen. Jetzt waren sie leer, die Hornhäute trüb und glasig. Das Blut war schon abgewaschen worden, und die Einschusswunde in der linken Schläfe war als rot umrändertes, wie eingestanzt wirkendes Loch zu erkennen.
    »Das sieht aus wie eine Hinrichtung«, sagte er.
    »In der linken Rumpfseite sind noch weitere Wunden.«
    Sie deutete auf den Leuchtkasten. »Auf der Röntgenaufnahme kann man zwei Kugeln erkennen, dicht neben der

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