Schenk mir deinen Atem, Engel ...
zitternden Fingern wählte sie den Notruf.
„Hallo?“, rief sie, als sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete. „Bitte, helfen Sie uns. Hier hat es eine riesige Explosion gegeben. Es gibt Verletzte.“ Zumindest hoffte sie, dass es bei Verletzten bleiben würde.
Dann nannte sie die Adresse der Bungalowsiedlung.
6. KAPITEL
Liebes Tagebuch,
es ist alles so schrecklich. Will ist ganz verstört. Während ich das hier schreibe, sitze ich im Wartebereich des Krankenhauses. Mom und Dad sind bei Will, und ich warte hier und höre nichts. Ach, ich weiß, ich war oft fies zu meinem Bruder. Aber wenn er jetzt …
Faith ließ den Stift sinken und schloss die Augen. Sie hatte diese Zeilen auf ein loses Blatt Papier geschrieben, vorwiegend um die Wartezeit zu überbrücken, aber auch um ihre Gedanken zu sortieren. Doch sie konnte jetzt einfach nicht weiterschreiben. Erstens, weil sie nicht wusste, was sie überhaupt noch schreiben sollte, zweitens, weil es ihr irgendwie nicht richtig erschien.
Sie schaute auf und ließ ihren Blick über den Wartebereich der Notaufnahme schweifen. Was sie sah, trug nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu heben: grauer Linoleumboden, orangefarbene Plastikstühle, der Geruch von Desinfektionsmitteln in der Luft. Ein paar Meter von ihr entfernt saß ein älteres Ehepaar. Die Frau weinte fast ununterbrochen. Unwillkürlich fragte Faith sich, was ihnen wohl zugestoßen sein mochte.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Es gab genug andere Dinge, über die sie sich Gedanken machen sollte.
Zum Beispiel über ihren Bruder.
Ob er jemals wieder ganz der Alte werden würde? Die kleine Nervensäge, die sie so oft zur Weißglut trieb und ohne die zu sein sie sich trotzdem nicht vorstellen konnte?
Sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Wäre sie im Bungalow geblieben, hätte auch Will nicht einfach so zu seinem Freund schleichen können. Und dann hätte er all dieses Grauen womöglich gar nicht erleben müssen. Zumindest nicht so, wie es schließlich passiert war.
Ihre Eltern und alle anderen glaubten nach wie vor, dass es im Haus von Miles’ Familie aus unerklärlichen Gründen zu einer Explosion gekommen war. Da die Feuerwehr festgestellt hatte, dass der Bungalow nicht mit Gas versorgt wurde, suchte man fieberhaft nach einer anderen Erklärung – bisher erfolglos.
Nur Faith, Jake und Will wussten, was geschehen war.
Sie waren es gewesen.
Die Monster.
Doch das war ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen konnten. Wer würde ihnen auch glauben? Faith konnte ja selbst nicht verstehen, was im Augenblick in ihrem Leben passierte. Ihre ganze Welt war ins Wanken geraten. Fast schien es, als hätten die Gesetze der Logik aufgehört zu existieren. Sie vermochte es nur schwer mit Worten zu umschreiben. Dazu war es einfach viel zu verrückt.
Verrückt? Nein, das traf es nicht im Mindesten!
Sie dachte an Jake.
Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte er mitten im Kampf gegen die Höllenkreaturen gesteckt. Sie wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Und sie machte sich schreckliche Sorgen um ihn. Der Gedanke, ihn vielleicht niemals wiederzusehen, brannte wie Säure in ihrem Magen. Sie schob ihn so weit es ging von sich. Sagte sich, dass Jake nicht tot sein konnte . Schließlich war er doch ein Schutzengel, oder nicht? Er behauptete es jedenfalls. Zumindest, dass er früher einmal einer gewesen war. Wenn das stimmte, konnte er doch nicht einfach so sterben – oder?
Sie kannte die Antwort nicht, und das machte sie wahnsinnig. Gleichzeitig glaubte sie aber auch, dass sie es wissen würde, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Es gab eine seltsame Verbindung zwischen ihnen. Sie würde spüren, wenn sie plötzlich abrisse. Zumindest versuchte sie sich das einzureden.
Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzugrübeln, denn in dem Moment trat ihre Mutter in den Warteraum. Wie blass sie war! Dunkle Ringe umrahmten ihre Augen.
„Mom?“ Faith stopfte die Schreibutensilien in ihre Tasche und sprang von ihrem Platz auf. „Was ist mit Will? Geht es ihm gut?“
Seufzend fuhr Mrs Moningham sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Die Ärzte sagen, dein Bruder hat einen Schock erlitten. Es ist wohl nichts Ernstes, aber sie wollen ihn trotzdem die Nacht über hierbehalten.“
Eine Woge der Erleichterung überrollte Faith. „Weißt du auch, was mit der Nachbarsfamilie ist?“
„Sie sind alle in Ordnung, Schatz. Ein paar Verletzungen zwar, aber nichts Schlimmes. Die Ärzte halten das für
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