Schenkel, Andrea M
die Zeitung hinein. Ich warte. Luge hinter dem geöffneten Deckel hervor. Sehe, wie der Linienbus näher kommt, hält, sie steigt ein. Der Bus fährt weiter. Ich schließe die Tonne, gehe zurück zum Haus.
Ich drücke wahllos auf einen der zahlreichen Klingelknöpfe. Beim dritten Versuch habe ich Glück, das summende Geräusch des Türöffners. Ich stemme mich gegen die Tür, sie öffnet sich, ich bin im Haus.
Der Hausflur unterscheidet sich kaum vom Flur in meinem Haus gegenüber. Der einzige Unterschied: statt des handbreiten grünen Streifens, der sich etwa einen Meter über dem Boden befindet, ist es hier ein roter.
Mit dem Fahrstuhl fahre ich in das Zwischengeschoss zur vierten Etage, steige dann die Treppe hinauf. Trete nur mit dem vorderen Fuß auf, versuche möglichst wenig Geräusch zu verursachen.
Ich greife in die Tasche meiner Army-Jacke und hole eine kleine Plastikkarte heraus. Die Karte stecke ich oberhalb des Schlosses in den Falz zwischen Rahmen und Tür. Ziehe sie ein Stück nach unten, bis ich auf einen Widerstand stoße. Nehme sie ein ganz kleines Stück heraus und drücke auf Höhe des Widerstands gegen den Schnapper. Ein Klacken, die Tür ist offen.
Ich blicke mich nach allen Seiten um. Nichts. Und verschwinde rasch in der Wohnung.
Im Flur bleibe ich hinter der Tür stehen, atme tief durch, spüre meinen Herzschlag. Verrückt und lächerlich. Es ist nicht mein erster Einbruch, und doch ist es diesmal anders. Ich will nichts stehlen, mich nur umsehen.
Die Wohnung ist wie meine eigene, nur spiegelverkehrt. Im Flur an der Garderobe Mantel, Jacke, ein Paar Schuhe am Boden. Gegenüber ein Spiegel. Daneben eine Pinnwand. Eintrittskarten, Konzertkarten. Ich sehe sie mir genauer an. Musical- und Theaterkarten, Phantom der Oper, Cats, Starlight Express, die Fledermaus und Richard Clayderman. Nicht mein Geschmack.
Ich greife nach einem der Schuhe, hebe ihn hoch. Hellbrauner Lederschuh, vorne spitz zulaufend, die braune Brandsohle im Bereich der Ferse etwas abgewetzt. Der Absatz mittelhoch, schlank, nach außen leicht abgetreten. Ich rieche daran, duftet angenehm nach Leder. Als Kind habe ich meine Mutter immer zum Schuster begleitet. Der ganze Laden roch nach Leder und Schusterleim. Meine Mutter behauptete, man würde von dem Geruch süchtig.
Links die Tür zum Wohnzimmer, nein, das Bad. Logisch, alles spiegelverkehrt. Im Bad überall Fläschchen, Tuben und Tiegel, unter dem Spiegel, auf der Glasplatte. Ich versprühe etwas von dem Parfüm, riecht gut, lieblich. In der Badewanne Wäsche. Ich stochere ein bisschen darin herum. Blusen, Strümpfe, Unterhosen, ein BH. Ich halte ihn hoch. Hautfarben, alles andere als sexy.
Ich gehe ins Wohnzimmer. Couchgarnitur, grün, Cord, Couchtisch aus Rauchglas. Gegenüber eine Schrankwand. Helles Kiefernholz. Ich sehe mir die Sachen im Regal genauer an. Liebesromane, Kochbücher, Lexika, Yoga für Jeden, Ratgeber und ein Opernführer. In der obersten Reihe ganz hinten in der Ecke klemmt etwas zwischen Büchern und Regalwand. Es sieht aus wie ein Bilderrahmen. Ich strecke mich, greife nach dem Rahmen, ziehe ihn heraus. Eine Fotografie, die Farben durch die Jahre etwas gelbstichig geworden. Das Bild gefällt mir. Es erinnert mich an meine Kindheit. Meine Mutter war nur ein paar Jahre älter als das Mädchen auf dem Bild, als sie schwanger wurde. Die gleichen dunkelblonden Haare, das blasse Gesicht. Sie war so schmal, so zerbrechlich. Ich nehme das Bild mit, stecke es in meine Jackentasche. Sie wird es nicht bemerken.
Hinter mir plötzlich ein Rascheln. Leise. Dann ein Schaben. Ich bin ganz still, lausche, rühre mich nicht vom Fleck. Das Geräusch wird lauter. Von woher kommt es? Von der Tür? Verdammt, die lebt doch allein. Außer ihr wohnt doch keiner hier. Ich schiebe meine Jacke etwas zur Seite und greife in meine rechte Gesäßtasche. Ich hole mein Jagdmesser heraus. Es klickt leise beim Öffnen. Mit dem geöffneten Messer in der Hand schleiche ich mich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Ich gehe über den Flur. Das Geräusch kommt aus der Küche. Das Messer in der rechten, stupse ich mit der linken leicht gegen die angelehnte Tür. Die Tür geht langsam auf. Ich mache einen Schritt vorwärts, schaue mich um. Niemand.
Es scheppert laut. Ein Klirren. Ich fahre herum, das Messer immer noch in meiner Hand. Da sehe ich die Katze, wie sie mit gesträubtem Fell fauchend auf dem Tisch steht. Sie springt vom Tisch, saust an mir vorbei durch die geöffnete Tür. Am
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