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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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freundlich war, musterten Charlotte mit der üblichen kühlen Reserviertheit. Sie fühlte sich deplatziert, ungeliebt und unreif. Sie hatte eine dicke Strumpfhose angezogen, und in der Galerie war es jetzt so heiß, dass sie unter den zahlreichen Lampen zu schwitzen begann. Ihr Haar wurde kraus und ein feuchter, glänzender Film legte sich über ihre Wangen. Sie trank zu viel Champagner, der umsonst ausgeschenkt wurde. Sie hatte das Gefühl, die Worte »die Andere« deutlich lesbar auf der Stirn zu tragen, und fühlte die unausgesprochenen Vorwürfe, die klischeehaften Bezeichnungen, die man ihr hinter vorgehaltener Hand verpasste: die jüngere Ausgabe der Ex, die Verlegenheitslösung in der Midlife-Crisis. Am liebsten hätte sie alle und jeden an den Schultern geschüttelt und gebrüllt, dass alles nicht stimme, es ganz anders, viel mehr sei: etwas, das sie nie verstehen würden.
    Charlotte geriet allmählich in das altbekannte Fahrwasser: Sie fühlte sich nicht gut genug. Plötzlich und ohne zu wissen, warum, sah sie ihren komatösen Vater in seinem Krankenbett liegen, bleich und hilflos wie ein gehäutetes Karnickel. Sie erschauderte, verdrängte die Gedanken an ihn. Gerade in diesem Moment wollte sie nicht an ihn denken.
    »Sei nicht so empfindlich«, flüsterte Gabriel ihr ins Ohr. »Ist eine schwierige Situation für meine Freunde. Sie müssen sich erst daran gewöhnen. Vielleicht sind sie ja ein bisschen störrisch. Aber das heißt nicht, dass sie dich nicht mögen.«
    »Warum geben sie dann mir die Schuld, obwohl ich nichts dafür kann?«
    »Wie meinst du das?«
    »Du hast deine Frau verlassen, oder? Das ist das eine. Erst danach hast du dich mit mir eingelassen. Steht also auf einem ganz anderen Blatt. Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Du bist ausgezogen. Trotzdem hält man mich für die schamlose Hexe, die dich verhext und deine Bilderbuchehe zerstört hat. Gütiger Himmel!« Sie hielt einen Ober an, der mit einem Tablett Fingerfood vorbeikam, und schob eines der mit geräuchertem Lachs belegten Blini in den Mund.
    »Charlotte, ich werde hier und jetzt nicht darauf eingehen.«
    »Worauf eingehen?«, fragte sie mit vollem Mund.
    »Auf diese Diskussion. Hier mit all meinen Freunden.« Er warf einen Blick über die Schulter. Charlotte drehte sich um, folgte seiner Blickrichtung und entdeckte Florence, die sie mit verschränkten Armen und bedeutungsvoller Miene beobachtete.
    »Ach, verdammter Mist«, entfuhr es ihr unwillkürlich. »Geh doch zu ihr und schwelge mit ihr in den guten alten Zeiten, wenn dich das glücklich macht. Ich hau ab!« Damit drückte sie ihm ihr leeres Champagnerglas in die Hand, stakste so würdevoll wie möglich zur Garderobe und holte ihren Mantel. Sie war eigentlich nicht wütend. Sie spielte die Wütende, denn sie war der Meinung, ein Recht auf Wut zu haben. In Wirklichkeit war ihr nur trostlos zumute.
    Ihre Gedanken wanderten zu dem Telefongespräch mit ihrer Mutter, zu ihrem alten Kinderzimmer, das mittlerweile bar all dessen war, was einst ihr gehört hatte, zu der Erkenntnis, dass sie nichts tun konnte, um die Situation zu verbessern, und hasste sich für ihre Machtlosigkeit, dafür dass sie spielte, was sie glaubte, spielen zu müssen, anstatt sich so zu benehmen, wie ihr wirklich zumute war.
    Und die ganze Zeit über hoffte Charlotte inständig, dass Gabriel ihr folgen, sie in seine Arme nehmen und sich entschuldigen würde. Aber er kam nicht. Sie ging ohne einen Blick zurück.

Anne; Charlotte
    S ie gewöhnten sich stumm an einen Routineplan bei ihren Krankenhausbesuchen. Auf diese Weise gingen die Tage in Wochen über und die Situation bekam den Anschein einer Dauerlösung. Sie stellten fest, dass es ganz leicht war, leichter, als es hätte sein sollen, das Außergewöhnliche hinzunehmen und es zur Normalität werden zu lassen. Aus dem anfänglichen Schock wurde Ermüdung. Das Entsetzen stumpfte ab, und die Zeit hielt alles in der Schwebe. Die Angst und die Sorge, die sie unmittelbar nach Charles Unfall beherrscht hatten, verwandelten sich in das dumpfe, nagende Gefühl, etwas tun zu müssen. Längst fürchteten sie die Krankenhausbesuche nicht mehr. Sie handelten sie als eine Notwendigkeit ab, als Teil der täglichen Routine.
    Anne, die nie einen Beruf ausgeübt hatte, stellte beinahe erleichtert fest, dass sie plötzlich eine neue Aufgabe hatte, die ihre Zeit sinnvoller ausfüllte, als die endlosen Gespräche bei einer Tasse Caffè Latte mit Janet oder den

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