Scherbenherz - Roman
schwerer?‹
Nach der ersten Begegnung trafen sich Charlotte und Gabriel in größeren Abständen, stahlen sich heimlich zwei gemeinsame Stunden in einer kleinen Kneipe mit dunklen Holzmöbeln, hinter der U-Bahn-Station Sloane Square. Die schlammgrün und gelb gemusterten Raufasertapeten an den Wänden waren stumpf vom Nikotindunst vieler Jahre. An den Tapetenleisten hingen ländliche gerahmte Jagdszenen. In einer Ecke prangte eine alte Schubkarre als rustikales Dekor an der Wand.
Die Kneipe wurde zu einem Running Gag zwischen ihnen. Sie lag mitten in einem wohlhabenden Wohnviertel mit hübschen kleinen Häuschen und sorgfältig getrimmten Buchsbaumhecken. Für eine Kneipe dieser Art eine unpassende Umgebung. Allein dass es ein solches Lokal noch gab, überraschte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie um die Ecke bogen. Es schien allein für sie aus dem Erdboden gestampft worden zu sein; allein für die wenigen Stunden, die sie in seinem wie eine Jahrmarktbude erleuchteten Inneren verbrachten. Abgesehen von einem pensionierten Militär mit Schnauzbart in roter Uniform aus dem Altersheim des Royal Chelsea Hospital, der stets auf seinem Platz an der Theke saß und aus seinem eigenen Bierkrug trank, waren sie immer die einzigen Gäste.
»Wie könnte der alte Mann wohl heißen? Was glaubst du?«, hatte Gabriel sie eines Abends gefragt, während sie sorgfältig darauf achteten, sich nicht zu nahe zu kommen, obwohl die Luft zwischen ihnen vor Spannung knisterte.
»Hm, vielleicht … Richard? Nein, ich bin für Geoffrey.«
»Geoffrey. Das könnte passen. Ich schätze, er hatte eine Frau, die sich immer beklagt hat, dass er sich nicht gründlich rasiert … Deshalb ist er jetzt so stolz auf seinen Schnauzbart.«
»Bin nicht sicher, ob er je verheiratet gewesen ist.«
»Du meinst, er ist ein überzeugter Junggeselle?«
»Oder die Liebe seines Lebens hat seinen besten Freund geheiratet. Deshalb trinkt er jeden Abend hier. Um zu vergessen.«
Sie dachten sich reihenweise unsinnige Geschichten wie diese aus, um die Leere zu füllen, die durch all das Unausgesprochene zwischen ihnen entstand. Einmal hatte Gabriel unter dem Tisch ihre Hand ergriffen. Das hatte sich derartig verboten, aufregend und doch angefühlt, wie es sein sollte, dass ihr beinahe die Luft weggeblieben war.
Allmählich begann Charlotte zu glauben, dass er meinte, was er sagte, dass er sie liebte wie noch keine zuvor. Und er wollte sie offenbar so, wie sie war. An diesem Punkt wurde ihr klar, dass sie sich zum ersten Mal Hals über Kopf und blindlings verliebt hatte. Mit Vernunft ließ sich das weder erklären noch passend zurechtbiegen. Es gab keine andere Möglichkeit, als ins kalte Wasser zu springen. Das machte ihr Angst. Sie hatte wenig Selbstvertrauen, konnte nicht glauben, dass sie diese Gefühle wert war. Es fiel ihr schwer, Gabriels Liebe einfach zu akzeptieren. Sie brauchte Beweise.
In den Tiefen ihres Bewusstseins gab es eine dunkle, zerklüftete Höhle, in der Charlotte all ihre schrecklichsten Gedanken hortete. Sie hielt diese fest unter Verschluss, aus Angst vor ihren eigenen kranken Fantasien, was ihr auf seltsame Weise ein Gefühl von Macht verschaffte. Behielt sie ihre Gedanken für sich, so glaubte sie, würde niemand sie je wirklich kennen. Dann hätte sie alles unter Kontrolle. Unter Gabriels prüfenden Blicken fühlte sie sich zwar sehr verwundbar, doch ihre Geheimnisse hielt sie vor ihm verborgen: Diese düsteren Untiefen, das sich ausbreitende Gift selbst verschuldeten Schmerzes, Dinge, die niemals ans Licht kommen durften.
Die Kunstgalerie bestand aus einem großen, weiß getünchten Raum, in dem zahlreiche schmucklose Stelen wie Baumstümpfe über dem hellen Fußboden aufragten. Der Zugang zur Galerie führte über eine wackelige Feuertreppe aus Metallgitter, die für Frauen mit Pumps und hohen Absätzen eine ausgesprochene Herausforderung war. Gerade als Charlotte die letzte Stufe erreicht hatte, kam sie aus dem Tritt, musste nach Gabriels Arm greifen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, so dass beide wie trunken in den Raum taumelten. Als sie gerade noch einen Sturz verhindern konnten, verstummten schlagartig die Gespräche des Publikums. Angesichts der Stille wäre Charlotte am liebsten in Grund und Boden versunken. Sie kamen zu spät, was natürlich Charlottes Schuld war. Und jetzt starrten all die eleganten, mondänen Frauen aus Gabriels Freundeskreis auf ihre hohen Absätze mit jener mitleidigen Miene, die weltläufige
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