Scherbenherz - Roman
nicht zum ersten Mal, ob ein Teil der Anziehungskraft, die Gabriel auf sie ausübte, damit zu tun hatte, dass ihre Mutter ihn nicht mochte. Sie erinnerte sich noch gut an Annes entsetzte Miene, als sie ihr gesagt hatte, dass Gabriel Jude sei. Schock und der Versuch, ihn zu vertuschen, waren nicht zu übersehen gewesen. Der missbilligende Zug um ihren Mund verschwand hastig. Sie wollte schließlich auf keinen Fall als »intolerant« gelten.
»Jude?«, hatte Anne wiederholt. »Wie interessant.«
»Keine Angst, Mum. Er ist kein praktizierender Jude.«
»Wovor sollte ich denn Angst haben?«
»Na, davor, dass du deine nette bürgerliche Tochter an einen schläfengelockten chassidischen Herrn verlieren könntest, der die Sommer damit verbringt, Zettel in die Klagemauer zu stecken.«
»Der Gedanke ist mir nicht mal entfernt gekommen«, entgegnete Anne steif.
Gabriel. Selbst die Gerüche und Geräusche der Klinik, das Desinfektionsmittel, das Quietschen der Schwesternschuhe auf dem Linoleum, konnten ihre Gedanken an ihn nicht verdrängen. Immer wieder ging ihr der Streit vom Vorabend durch den Kopf. Es war, als kratze sie den Schorf von einer Wunde. Am Morgen war sie aufgewacht, verkatert und müde, und hatte inständig gehofft, eine SMS von ihm oder zumindest seine Nummer auf dem Display vorzufinden, als Beweis, dass er angerufen hatte. Dennoch wusste sie, noch bevor sie ihr Handy überprüft hatte, dass nichts dergleichen geschehen war. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengrube, ein Flattern, eine verstörende Ungewissheit, die sie den ganzen Tag verfolgte. Und wie immer nach einem Streit fragte sie sich, ob sie tatsächlich mit jemandem zusammenbleiben wollte, dessen persönliche Situation derartig belastend war. Wie viel einfacher wäre ihr Leben mit einem zwar weniger geistreichen, dafür aber unkomplizierten Mann ihres Alters mit ehrlichen Absichten, normalem Job und einem Freundeskreis, den sie spielend für sich gewinnen konnte!
Auf der Fahrt in die Klinik war sie im Geiste eine Liste ihrer unverheirateten Freunde durchgegangen, hatte jeden Einzelnen als ungeeignet abgehakt, bis ihr klar geworden war, dass sie keinen anderen als Gabriel wollte und dass umgekehrt kein anderer sie wollte, was sie noch mehr deprimierte. Um sieben Uhr abends hatte sich Gabriel noch immer nicht gemeldet, während die Angelegenheit weiter in ihr gärte. Mal war sie wütend, mal bestürzt, aber stets entschlossen, trotz allem auf keinen Fall den ersten Schritt zu tun.
»Du bist ein Kontrollfreak«, hatte Gabriel ihr einmal an einem faulen Wochenende morgens im Bett vorgeworfen.
»Nein, bin ich nicht.«
»Doch, bist du«, hatte er gestichelt. »Du glaubst, wenn du auch nur einen Kratzer in deiner Rüstung zulässt, nutze ich das aus und du verlierst die Kontrolle.«
»Das ist doch Blödsinn!«, hatte sie lachend entgegnet, sich umgedreht und ihn auf die Nasenspitze geküsst.
»Es ist mein Ernst. Aber Tatsache ist, Charlotte …«
»Was ist was?« Sie begann, ihn an seinem flachen Bauch zu kitzeln.
»Tatsache ist«, wiederholte er und fasste ihre Hand, um sie aufzuhalten, »dass es bei der Liebe nicht um Macht oder Kontrolle geht. Genau darum geht es eben nicht.«
Und natürlich hatte er recht, auch wenn sie das ihm gegenüber nicht zugegeben hatte. Ihre offensichtliche Schwäche und Verwundbarkeit machte ihr Angst. Es war der Gedanke, er könne ihr wehtun, wie er Maya, seine Noch-Ehefrau, verletzt hatte; der Gedanke, dass er mit ihren Gefühlen spielte, sie dazu brachte, ihn zu lieben, um dann eines Tages festzustellen, dass er sie satthatte; der Gedanke, dass er trotz gegenteiliger Beteuerungen ein ganzes Sammelsurium an Geheimfächer in seinem Leben hatte, wo er seine unausgesprochenen Gedanken und Sehnsüchte verwahrte; der Gedanke, dass er unter der harmlosen Oberfläche durchaus in der Lage zu Heimlichkeiten war.
Gabriel hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er wegen seiner kurzen Affären mit anderen Frauen keinerlei Schuldgefühle hatte. Eher machte er zum Teil Maya und ihre Fehler dafür verantwortlich, ihre Unfähigkeit, seine Erwartungen zu erfüllen. Gerade das hatte bei Charlotte automatisch zu der Befürchtung geführt, seinen Erwartungen womöglich ebenfalls nicht gerecht zu werden. Und jeder Streit oder jede lautstarke Auseinandersetzung hinterließ bei ihr stets das schmerzliche Gefühl totaler Verunsicherung. Sie würde nicht als Erste anrufen, versprach sie sich unsinnigerweise. Sie wollte ihm einfach
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