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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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täglichen Soaps im Fernsehen, die sie heimlich sah, ohne dass jemand davon wusste. Eine andere Erleichterung war die Tatsache, nie daran denken zu müssen, was sie zum Abendessen kochen sollte. Mit Charles im Haus hatte die mühsame tägliche Frage nach einer neuen Zusammenstellung aus Gemüse und Fleisch stets wie ein Damoklesschwert über ihr geschwebt, hatte seltsam aufgeblasene, groteske Formen angenommen, so dass sie sich bereits unmittelbar nach dem Aufwachen mit einer Art Wahnvorstellungen von Lammkoteletts und grünen Bohnen herumquälte. Jetzt, da Charles im Krankenhaus lag, holte sie sie sich auf dem Nachhauseweg aus einem Supermarkt, worauf immer sie Lust hatte. Sie lebte mit großem Vergnügen die seltsamsten Essensgelüste aus. Einmal hatte sie eine Packung marinierten Tofu und zwei grüne Äpfel gegessen und war vollkommen zufrieden gewesen.
    Sie besuchte Charles täglich. Das Empfangspersonal kannte sie längst, so dass man sie durchwinkte, ohne wie sonst üblich den Ausweis zu verlangen. Das Krankenhaus war eine hübsch eingerichtete Privatklinik mit Blick auf die Themse und Zimmerservice. Zu den Mahlzeiten wurde auch ein Glas Chardonnay (ohne Barriquegeschmack) serviert. Es funktionierte oberflächlich betrachtet wie ein gut geführtes Hotel an einer Stadtautobahn.
    In Charles’ Zimmer befand sich ein Fernsehapparat, mit dem man Satellitensender empfangen konnte, auf die Anne zu Hause verzichten musste. Seit er in der Klinik lag, war sie zur Expertin für Schund und Kitsch geworden. Eine amerikanische Sendung mochte sie besonders. Es handelte sich um eine Realityshow, bei der ein neues Topmodel gesucht wurde. Sie schien endlos wiederholt zu werden. Anne verfolgte besonders gern die ›Vorher-Nachher-Serie‹, in der Mädchen mit scheinbar gewöhnlichen Gesichtern und glanzlosem Blick durch Haarfärbung und Zahnaufhellung in glamouröse, zauberhafte Kunstgeschöpfe der Kosmetik verwandelt wurden.
    Die Gewissheit, dass Charles diese Sendung gehasst, mit düsterem Blick im Zimmer gesessen und mit jedem ostentativen Luftholen seine Missbilligung verbreitet hätte, verschaffte ihr dabei einen heimlichen Nervenkitzel. Die einzigen Sendungen, die er goutierte, waren die News at Ten oder Panorama , wobei er letztere boykottierte, seit die BBC diese auf eine halbe Stunde Sendezeit zusammengestrichen hatte. Alles andere hatte ihn stets zu der beißenden Kritik veranlasst, es sei ihm unverständlich, wie Anne sich derartig geisttötenden Mist ansehen könne. Daher hatte sie es sich angewöhnt, ihre Lieblingssendungen aufzuzeichnen und sie spätnachts anzusehen, nachdem er zu Bett gegangen war. Die Lautstärke stellte sie dabei so niedrig ein, dass sie kaum verstand, was die Akteure sagten.
    Anne mochte die Klinik mit ihrer gedämpften Atmosphäre und dem geordneten Ablauf, genoss den stummen Trost, den die mitfühlenden Blicke der Schwestern spendeten. Dabei fürchtete sie in manchen Augenblicken, dieses Lächeln und die aufmunternden Gesten nicht zu verdienen. Im Lauf der Jahre war sie zu der Überzeugung gelangt, dass aus der Person Charles in ihrem Leben ein reiner Umstand geworden war, etwas, das man erdulden, mit dem man leben und das man ertragen musste, anstatt es zu lieben und zu umsorgen. Anne war nicht gefühlskalt. Aber sie hatte den Eindruck, dass ihr alle Zärtlichkeit abhandengekommen war. Sie fand einen gewissen Seelenfrieden an Charles Krankenbett, wie sie ihn Jahre nicht mehr erlebt hatte. Und nicht zuletzt brachte sie diese Situation, zumindest tagtäglich, Charlotte wieder näher.
    Meistens sprachen sie nur wenig miteinander. Charlotte eilte stets hastig geradewegs an Charles Krankenbett und begann einen gedämpften Monolog über die Ereignisse des Tages. Anne saß dann auf dem Stuhl am Fenster, tat so, als blicke sie auf den Fluss hinaus, während sie ihre Tochter verstohlen musterte, die Neigung ihres Kopfes begutachtete und der Intonation ihrer Stimme lauschte. Sie versuchte insgeheim und unbemerkt zu erkennen, ob sich Charlottes Ekzem wieder entzündet hatte. In letzter Zeit war ihr eine verräterische Ansammlung leuchtend roter Punkte in der Armbeuge der Tochter aufgefallen.
    An diesem Tag allerdings trug Charlotte lange Ärmel, und Anne konnte nicht sehen, ob die Entzündung abgeklungen war oder nicht. Sie wirkte verstört, als sie durch die Tür trat, die Augen leicht geschwollen, das Gesicht bleich. Mit gesenktem Kopf vermied sie jeden Blickkontakt.
    »Hi, Mum. Bin spät dran. Tut

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