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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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mir leid.«
    »Keine Sorge. Er merkt es bestimmt nicht.« Das war als Versuch gedacht, die Atmosphäre aufzulockern, doch sobald die Worte heraus waren, bereute Anne sie. Ihre Stimme hatte so bitter, so teilnahmslos geklungen. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Charlotte hatte nichts darauf geantwortet, nur trotzig den Mund verzogen.
    »Wie stehen die Dinge?«, fragte Anne versöhnlich.
    Charlotte rollte schnell aber sichtbar die Augen. »Sie stehen gut.«
    »Viel zu tun im Büro?«
    »Ja.«
    Es folgte eine quälende Pause. »Und …was ist mit … Gabriel?«, erkundigte sich Anne und brachte den Namen nur mühsam über die Lippen. Charlotte sah ihr in die Augen.
    »Alles bestens, danke.« Sie schwieg, schien sich dann jedoch zu besinnen. »Weißt du, es ist wirklich offensichtlich, dass du ihn nicht leiden kannst, Mum. Also tu dir keinen falschen Zwang an.«
    Charlottes Kinn begann zu beben und sie wandte sich ab.
    Anne verschlug es im ersten Moment die Sprache. Es stimmte. Sie hielt nichts von Gabriel. Sie glaubte nicht, dass er so viel Charakter oder, nach allem, was sie gehört hatte, die Fähigkeit besaß, einer Frau treu zu bleiben. Und das wünschte sie sich für ihre Tochter. Allerdings hatte sie geglaubt, ihre Aversion erfolgreich zu verbergen. Nur gegenüber Janet oder indirekt gegenüber Charles hatte sie ihre Vorbehalte offen ausgesprochen.
    »Das hat mit ›leiden können‹ nichts zu tun, Charlotte«, entgegnete sie frostig. »Wie kommst du überhaupt auf diese Idee? Ich kenne den Mann ja kaum.«
    »Du hast ihn kennengelernt, als du zum Essen bei mir gewesen bist.«
    »Ja, und er hat fast den ganzen Abend damit verbracht, seiner Selbstdarstellung zu frönen.«
    »Was, bitte schön, soll das heißen?«
    Anne sog scharf die Luft ein. Sie wollte nichts sagen, was sie später bereuen könnte. Gleichzeitig war sie plötzlich wütend, fühlte sich von einem Fremden in die Ecke gedrängt, der noch nicht einmal von seiner Frau geschieden war. »Er macht einen sehr selbstbewussten Eindruck.«
    Charlotte schüttelte heftig den Kopf. »Er weiß, was er kann«, erwiderte sie mit seltsam erstickter Stimme. »Ist das so schlimm? Jedenfalls gefällt er sich nicht vorzugsweise in der Rolle des Opfers.«
    »Wie bitte?«
    »Ach, vergiss es, Mum! Ich bin einfach nicht in der Stimmung.«
    Anne fühlte, wie heiße Tränen in ihre Augen traten, den Druck eines drohenden Weinkrampfs über der Nasenwurzel. Sie atmete tief ein und aus, grub den Daumennagel in die Handfläche, um sich zu disziplinieren. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, stand sie auf, ging zur Tür und blieb über der Schwelle zum Korridor stehen. »Tut mir leid, dass das so ist«, erklärte sie still. Und dann mit gespielter Heiterkeit: »Ich hole Kaffee. Möchtest du auch einen?«
    Charlotte saß am Bettrand ihres Vaters und zupfte sanft die Bettdecke zurecht. Sie sah nicht auf. »Nein, danke.« Die Tür schloss sich. »Sei mir bitte nicht böse«, fügte sie einen Herzschlag zu spät hinzu. Ihre Mutter konnte sie nicht mehr hören.
    Kaum hatte ihre Mutter den Raum verlassen, stellten sich bei Charlotte die üblichen Schuldgefühle ein. Sie durfte sie nicht auf diese Weise reizen. Sie müsste über den Dingen stehen und sich bewusst machen, wie einsam und verbittert ihre Mutter war, eine Frau, deren Vorzüge nie erkannt, die in die Ehefalle getappt und Mutter geworden war, ohne weder in der einen noch in der anderen Rolle Erfüllung zu finden. Sie war eine Frau, die stets nach dem Ausschau hielt, das sie nicht hatte, und ohne die Chance, es je zu erreichen. Charlotte wusste, dass Anne das Leben ihrer Tochter mit einer seltsamen Mischung aus Verwunderung und Neid betrachtete, es bedauerte, nie dieselben Möglichkeiten gehabt zu haben. Und es stimmte: Charles hatte ihr das Leben schwergemacht mit all den Affären, den ständigen Schikanen, den hämischen Sticheleien.
    Dennoch hatte Charlotte unterschwellig stets das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter daran nicht ganz unschuldig war. Sie war eine geradezu pathologische Pessimistin, sorgte sich ängstlich um die Folgen jeder Entscheidung, war fest entschlossen, die Rolle der Märtyrerin zu spielen. Charles dagegen besaß derben Charme, eine Nonchalance, die für Personen, die sich in seinem Dunstkreis wiederfanden, durchaus attraktiv war. Er flirtete mit dem Leben. Anne schrak davor zurück.
    Auf keinen Fall, dachte Charlotte grimmig, will ich so enden wie meine Mutter. Und sie fragte sich

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