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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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durchdringend an, dass sich das klare, leuchtende Blau seiner Augen für einen Moment in winzige Farbpixel aufzulösen schien. Etwas Düsteres, Verstecktes und Unausgesprochenes lag in diesem Blick. »Was ist?« entfuhr es ihr unwillkürlich, und sie merkte, dass sie zitterte. Ein eisiger Wind blies ihr das Haar mit der Kraft einer Ohrfeige ins Gesicht. Irgendwo heulte eine Sirene, ein schriller, hässlicher Ton, der allmählich in der Ferne verhallte.
    »Charlotte …« Seine Hand hielt ihr Gelenk noch immer fest umschlossen. Sie fühlte den Druck seines Daumens auf ihren Venen, spürte das Mal, das zurückbleiben würde. Sein Griff wurde eisern, lockerte sich, schloss sich wieder in beharrlicher Abfolge, mit dem Rhythmus einer Bewegung, die Unbehagen erzeugte, sich anfühlte, als knetete er zähen Teig. Sie bekam es mit der Angst zu tun, wusste nicht, wie, aber sie weinte. Ein Wimmern entwich ihrer Kehle. Sie war selbst überrascht, dass es von ihr kam.
    »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte er mit seiner wie immer vollkommen ruhigen, klaren und deutlichen Stimme. »Verstehst du?«
    Sie nickte nur, brachte kein Wort heraus. Er beugte sich zu ihr, nahm ihr linkes Handgelenk in seine Rechte. Sie fühlte seine Kraft und seine Macht – Schutz und Gefahr zugleich. Sie fühlte all das, was sie von jeher in Panik versetzt und ihn gleichzeitig so bewundernswert gemacht hatte. Sie war gefangen, saß wieder einmal in einer Falle, die sie sich selbst gestellt hatte. Er beugte sich über sie. Sie weinte. Er beugte sich tiefer, zog sie an sich, und im nächsten Moment presste er seinen Mund auf ihren Mund und seine Zunge schlängelte sich feucht zwischen ihren geschlossenen Lippen hindurch bis tief in ihre Kehle. Sie hörte sein leises, wie eine Erlösung klingendes Stöhnen. Sekunden später war alles vorbei. Er gab sie abrupt frei, ließ ihre Handgelenke los.
    Charlotte sah seine verzerrten, von Speichel glänzenden Lippen. Sie spürte den gewohnten Ekel, das vage Gefühl, dass sie die Schuld traf. Er streckte den Arm aus und versuchte ihr Haar zu berühren. Sie wandte sich ab. Sie rannte nicht davon. Aber sie lief so schnell, dass ihr Atem rasselte und keuchte. Bis sie die U-Bahn erreichte, war sie völlig außer Puste. Sie merkte, dass ihre Tränen versiegt waren, spürte jedoch das heftige Schlagen ihres Herzens, das sich auf dem ganzen Weg nach Hause nicht beruhigte.
    Wenige Tage danach war Charles mit seinem Fahrrad verunglückt, was Charlotte den Vorwand lieferte, nicht mehr an das Geschehene zu denken. Sie schnürte den Vorfall in Gedanken zu einem ordentlichen Päckchen und verstaute es in den Tiefen ihres Bewusstseins. Sie tat so, als sei alles wie gehabt. Oder wie es hätte sein sollen. Sie spielte die Rolle der pflichtbewussten Tochter mit erstaunlicher Routiniertheit. Es fiel leichter, ihren Vater zu lieben, wenn er sprach- und bewegungsunfähig in einem Krankenbett lag. Und sie ahnte insgeheim, dass es ihrer Mutter ähnlich erging. Sie spielten beide wie üblich ihre Rollen.
    Also entschied Charlotte bewusst, vorerst nicht mehr an den Abend in Piccadilly zu denken. Sie wusste, dass das Gegenteil nur dazu führen könnte, an andere, noch verstörendere Ding zu denken, deren Existenz sie sich nicht eingestehen wollte. Sie war noch nicht bereit, diese aus den düsteren Abgründen ihres Bewusstseins ans Licht zu zerren.
    Anne kehrte mit zwei dampfenden Plastikbechern ins Zimmer zurück. »Ich hab dir auch einen Becher Kaffee mitgebracht. Für alle Fälle«, verkündete sie ohne ein Lächeln, den kühlen Blick hinter den beschlagenen Gläsern ihrer Brille verborgen.
    »Danke«, erwiderte Charlotte, schob den Stuhl am Krankenbett zurück und nahm Anne einen Becher ab.
    Keine der beiden Frauen verlor ein weiteres Wort darüber. Sie wussten es beide auch so. Eine Entschuldigung würde es nicht geben. Nicht mit Worten, nicht zwischen ihnen. Man ließ die Angelegenheit in der Schwebe, ungelöst zwar, und arbeitete stillschweigend an einem Kompromiss.
    »Als ich am Kaffeeautomaten war, hat Janet angerufen«, kam es schließlich von Anne.
    »Ach, ja? Wie geht es ihr?«
    »Wie immer. In ihrer Redseligkeit kaum zu bremsen. Sie wollte wissen, ob ich mit ihr ein Chorkonzert in Wilton Place besuchen möchte.«
    »Klingt doch gut«, bemerkte Charlotte emotionslos. »Und? Gehst du?«
    »Bin nicht sicher, ob mir der Sinn danach steht. Wenn ich an all das hier denke …«
    Es folgte eine längere Pause. Charlotte war klar, dass ihr

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