Scherbenherz - Roman
nicht die Macht geben, sie in einen derartigen Gefühlszustand zu versetzen. Außerdem war es in der Klinik nicht erlaubt, mit dem Handy zu telefonieren. Sollte er sich doch Sorgen machen. Sollte er doch versuchen, sie zu erreichen, und feststellen, dass sie nicht jederzeit verfügbar war.
Charlotte starrte in das ausdruckslose Gesicht ihres Vaters, das sich unverändert starr und wächsern gegen den gestärkten Kopfkissenbezug abhob. Der Ventilator bewegte sich mit heiserem, ächzendem Zischen wie eine Klimaanlage, die Fliegen und Staub in sich einsog. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung vor dem Unfall. Er hatte ihr aus heiterem Himmel eine E-Mail ins Büro geschickt und gefragt, ob sie Zeit habe, mit ihm zu Abend zu essen. Normalerweise kam das nie vor. Sie hatte Angst davor, fühlte sich aber auch geschmeichelt. Worüber zum Teufel sollte sie den ganzen Abend mit ihm reden? Gespräche mit Charles entwickelten sich meist zu Diskursen über die wichtigen Themen des Tages. Und sie fühlte sich dann stets erschlagen von seiner überlegenen Intelligenz, seinem umfassenden Wissen.
Erst vor Kurzem hatte sich Charlotte zum ersten Mal gefragt, ob sie überhaupt zu einer eigenen Meinung fähig war. Hatte sie sich einmal eine bestimmte Argumentation zurechtgelegt, dauerte es nicht lange, bis ihr die Schwachstellen bewusst wurden. Gab ihr jemand Kontra, stimmte sie demjenigen automatisch zu. Sie wechselte die Seiten nicht, um des lieben Friedens willen, sondern weil sie die Argumente der anderen immer für stichhaltiger hielt als alles, was sie ins Feld führen konnte.
Bei Diskussionen mit ihrem Vater offenbarte sich das in ihren halbherzigen Versuchen, einen intelligenten Kommentar abzugeben (über Abtreibungsgesetze, Studiengebühren, über die vielfältigen Segnungen des Kommunismus gegenüber dem Kapitalismus), worauf sie meist Charles schweigend das Feld überließ und seinen Ausführungen lauschte. Sie hatte, so viel war ihr klar, große Angst davor, ihm zu widersprechen. Es verlief also alles wieder nach demselben Muster wie schon bei den heimlich ertrotzten Fernsehgewohnheiten ihrer Kindheit, einschließlich der Angst vor seinem drohenden Zorn, vor einem unverhofften Wutausbruch, den man regungslos über sich ergehen lassen musste, um ihn ja nicht noch weiter zu reizen.
Einmal, mit zwölf, hatte er sie gefragt, ob sie glaubte, dass Euthanasie legalisiert werden sollte. Sie saßen beim sonntäglichen Mittagessen. Es gab Brathühnchen, das, weil sich ihre Mutter weigerte, mit Salz zu kochen, fad und wässrig geraten war. Das Hühnerfleisch war grau und strohig, der Brokkoli schlaff und matschig. Sie sah mit großen Augen unsicher von ihrem Teller auf. »Ich glaube schon«, sagte sie prompt und bereute ihre Antwort umgehend.
»Und weshalb, bitte schön?« Charles hatte sie durchdringend angesehen, das Kinn in die langen, schlanken Finger gestützt.
»Na, wenn man plötzlich gelähmt ist, nachdem man ein Leben lang ein aktiver Mensch gewesen ist oder gern geritten ist, muss das Leben doch die Hölle sein.« Sie hielt inne. Charles sah sie noch immer erwartungsvoll an. »Ich schätze … dann ist man lieber tot als an einen … einen Rollstuhl gefesselt …« Sie verstummte. Mehr fiel ihr nicht ein. Ihre Mutter nippte schweigend an ihrem Glas Wasser und vermied absichtlich jeden Blickkontakt.
Charles legte Messer und Gabel sorgfältig ausbalanciert rechts und links auf den Tellerrand.
»Aber woher willst du wissen, dass derjenige sterben möchte?«
Charlotte schluckte. »Er würde es doch sagen, oder?«
»Und wenn die Lähmung derart ist, dass derjenige nicht mehr sprechen kann?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung?« wiederholte Charles mit einem seltsam ausdruckslosen Lächeln. »In diesem Fall, meine liebe Charlotte, solltest du dir das mal genauer überlegen.«
Bedrückende Stille legte sich über die drei Personen am Tisch. Charlotte kamen die Tränen. Ihre Mutter, die das sah, begann ostentativ und geräuschvoll den Tisch abzuräumen.
»Ich bin noch nicht fertig«, erklärte Charles und griff erneut nach Messer und Gabel. Endlose Sekunden saßen sie schweigend bei Tisch, horchten auf Charles’ Kaugeräusche, auf das mit der Präzision eines Sekundenzeigers knackende Malen seines Kiefers.
Der Zwang, zur Zufriedenheit des Vaters funktionieren zu müssen, logische und überlegte Argumente vorzubringen, die eigene Meinung selbstsicher und sprachlich einwandfrei darzulegen, hatte sie bis in das
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