Scherbenherz - Roman
Erwachsenenalter verfolgt. Als sie älter wurde, hatte Charlotte gelernt, sich zumindest den Anschein von Selbstbewusstsein zu geben. Bei Gesprächen mit Gabriel oder Kollegen konnte sie sich behaupten. Nur in Gegenwart ihres Vaters verfiel sie noch immer in das alte Verhaltensmuster. Diskussionen mit Charles waren und blieben fruchtlos. Er war stets eisern entschlossen, jede intellektuelle Auseinandersetzung zu gewinnen, auch wenn er vielmehr durch sein Auftreten als durch seine Logik beeindruckte. Charlotte zog es daher in wachsendem Maße vor, zu schweigen oder die Unterhaltung auf völlig neutralen Boden zu lenken. Kam sie Weihnachten nach Hause, versuchte sie, sich nach den Mahlzeiten so schnell wie möglich zurückzuziehen, indem sie den Abwasch in der Küche übernahm.
Die E-Mail des Vaters hatte sie daher völlig überrascht. Ihr fiel auf, dass er mit »Charles« und nicht mit Dad unterschrieben hatte. Das hatte er sich in den letzten Jahren angewöhnt, ohne je eine Erklärung dafür zu liefern, so als wolle er von seiner Vaterrolle Abstand nehmen, sich auf eine Ebene mit Charlotte begeben. Charlotte gefiel das nicht. Denn, was auch immer sie von ihm halten mochte, er war und blieb ihr Vater. Sie wünschte sich mehr als alles andere, dass er stolz auf sie sein sollte. Und für Charlotte galt seine Meinung noch immer mehr als die der anderen, auch wenn sie versuchte, diesen Zwang allmählich abzuschütteln.
Sie hatten sich an jenem Abend in einem kleinen versteckten Lokal hinter dem Piccadilly Circus getroffen. Die Inneneinrichtung stammte noch aus den 1950er-Jahren und wirkte mit Resopaltheke, Kunstlederpolstern und niedrigen Chromlampen, die an braunen Kabeln über den Tischen hingen, wie die Kulisse aus einem alten Film. Charlotte bestellte die Fleischpastete auf der Karte, und Charles holte eine Flasche Wein aus seiner Aktentasche. In diesem Lokal war es erlaubt, eigene Getränke mitzubringen. Der Ober zückte schwungvoll seinen Korkenzieher und stellte erst dann fest, dass die Flasche einen Schraubverschluss hatte. Alle drei lachten.
»Diese Schraubverschlüsse sind mir nicht ganz geheuer«, bemerkte Charlotte in dem Versuch, die heitere Stimmung so lange wie möglich zu erhalten.
»Verstehe«, antwortete der Vater gut gelaunt. »Ich habe allerdings irgendwo gelesen, dass die modernen Schraubverschlüsse sehr präzise funktionieren. Der Önologe kann die Festigkeit des Verschlusses so manipulieren, dass exakt die richtige Menge Sauerstoff in den Wein gelangt, ohne zu riskieren, dass er korkt.«
Na bitte, dachte Charlotte. Da wären wir also wieder einmal soweit.
Dennoch verlief die Mahlzeit erstaunlich harmonisch. Ein wenig gehemmt, sicher, aber Charles erwies sich als verhältnismäßig angenehmer Gesprächspartner. Den Grund für seine Einladung verriet er allerdings nicht, und Charlotte stellte keine Fragen, zog es vor, davon auszugehen, dass es das Normalste der Welt sei, wenn sich Vater und Tochter zum Essen trafen.
»Wie geht es Mum?«, erkundigte sich Charlotte gegen Ende des Abends schließlich pflichtschuldig.
»Gut. Sie streicht das Arbeitszimmer. Ist ihr neues Projekt.« Er hielt inne, dachte kurz nach und fügte hinzu: »Was macht dein Freund … Gabriel?«
Charlotte war verblüfft. Nie hatte sie mit ihrem Vater über ihre Freunde gesprochen. Hatte ihm gegenüber niemals Gabriels Namen erwähnt, um nicht in die Defensive zu geraten. »Es geht ihm gut, danke«, antwortete sie. Danach bestellte er die Rechnung, und nach diesem kurzen intimen Austausch wurden die Jalousien wieder heruntergelassen.
Später, draußen unter dem von Neonreklamen von Fuji und Coca-Cola erleuchteten Nachthimmel, erschien die Atmosphäre plötzlich wie elektrisch aufgeladen. Während sie nebeneinanderher gingen, seine Schultern auf der Höhe ihres Kinns, kamen sie sich für ihr Gefühl etwas zu nahe. Der dicke Flanellstoff seines Mantels rieb gegen ihren Jackenärmel. Sie roch seinen alkoholisierten Atem, gemischt mit dem milchigen Geruch der Crème brulée, die er zum Nachtisch gegessen hatte.
»Ich rufe dir ein Taxi«, verkündete er.
»Nein, nicht nötig. Wirklich nicht. Ich nehme die U-Bahn von Green Park aus.«
»Ich möchte aber, dass du ein Taxi nimmst. Ich zahle.«
»Es ist nicht wegen des Geldes …«, protestierte sie. In diesem Moment drehte er sich plötzlich zu ihr um, packte sie so abrupt am Handgelenk, dass sie beinahe über die Bordsteinkante gestolpert wäre. Er starrte sie so
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