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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Mitgefühl gefordert wurde, dass es reine Taktik von Anne war, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Sie ging nicht darauf ein. Anne trank nervös ihren Kaffee.
    »Die ganze Situation ist wirklich strapaziös, weißt du. Diese ständigen Fahrten ins Krankenhaus, der dichte Verkehr und die Anrufe. Alle wollen wissen, wie es ihm geht. Zu Hause klingelt ständig das Telefon.«
    »Du bist eine Heilige, Mutter«, sagte Charlotte leise.
    »Für dich ist das einfacher, Charlotte. Du hast deinen Job. Du kannst täglich ins Büro fahren, bist abgelenkt, kannst dich auf deine Arbeit konzentrieren. Ich habe nichts dergleichen. Ich wünschte, ich hätte irgendeine Teilzeitbeschäftigung, nur so nebenbei, um was Sinnvolles zu tun. Stattdessen sitze ich hier wie angekettet bei deinem Vater – in der Schwebe zwischen Leben und Tod. Und der Himmel weiß, welche Prognose die Ärzte ihm geben.«
    Anne hörte sich reden, empfand ihre Stimme seltsam losgelöst von ihrer Person, schrill und fremd. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so redete. Vielleicht nur um Eindruck auf Charlotte, um ihrer Tochter bewusst zu machen, dass sie es zumindest versuchte. Anne hatte sich von jeher geschämt, nie einen Beruf ausgeübt zu haben, und war voller Bewunderung für Charlottes beruflichen Erfolg. Doch immer wenn sie diese Gedanken in Worte zu fassen versuchte, sprach gallige Verbitterung aus ihr.
    »Mum, so machst du es immer.«
    »Mache ich immer was?«
    »Na das. Dieses ständige Gejammer, was auf dir lastet, wie sehr du dir ein anderes Leben wünschst. Wie oft hast du mich schon gefragt, welchen Teilzeitjob du machen könntest. Und wenn ich dir was vorschlage, wenn ich darauf reagiere, machst du einen Rückzieher.«
    Anne rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Ihr Kinn sank auf die Brust. Charlotte sah sie an, wie sie dort am Fenster saß, und berührte kurz ihr Knie, zuckte jedoch hastig wieder vor jedem Körperkontakt zurück. »Tut mir leid, Mum. Ich bin nur … Ich mache mir Sorgen um dich. War ein schwieriger Tag. Bin ziemlich gestresst.«
    Anne betrachtete ihre Tochter, ihre abgespannten Züge und den besorgten Blick, die feinen Falten über den Augenbrauen, und fühlte einen scharfen Stich in der Magengegend. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen und die weichen Locken ihres Haars an ihrer Wange gefühlt.
    »Nimm das alles nicht so schwer.« Mehr fiel Anne nicht ein. Sie hatte Angst, mehr zu sagen und damit den fragilen Frieden zu zerstören, sich erneut und unabsichtlich durch ihr Reden in eine Sackgasse zu manövrieren und Charlottes Ärger oder schlimmer ihren Spott zu erregen.
    »Ich weiß, Mum. Ich weiß.« Charlotte wandte sich ab und entzog sich damit Annes Blicken.

Anne; Charles
    S ie verlobten sich einen Monat vor der Abschlussfeier an der Universität. Charles verhielt sich in jeder Beziehung so, wie es sich gehörte – er hielt bei ihrem Vater um ihre Hand an, ließ den Rubinring seiner Großmutter umarbeiten, so dass er glatt über ihren Ringfinger passte, und fiel schließlich in den Auwiesen von Grantchester, einst Ziel ihrer ersten gemeinsamen Fahrradtour, vor ihr auf die Knie.
    Sie wusste im Voraus, was er sagen würde, und obwohl sie in den zwei Jahren ihrer Beziehung diesen Augenblick herbeigesehnt hatte und obwohl sie insgeheim längst gewusst hatte, dass es dazu kommen würde, und sich in dem zukünftigen Glücksgefühl gesonnt hatte, stellte sie nun überrascht fest, dass ihr Lächeln so verkrampft und gummiartig ausfiel, dass ihre Backenmuskeln schmerzten. Es klebte einige Sekunden konturlos an ihren Lippen, bevor es ihr aus dem Gesicht glitt wie ein Seidenkleid vom Kleiderbügel.
    »Willst du mich heiraten?«, hatte Charles gefragt und zu ihr aufgesehen, die Hand ausgestreckt, um ihre Hand zu ergreifen. Er wirkte in dieser ritterlichen, irgendwie falschen, unzeitgemäßen Pose lächerlich. Und dennoch dachte Anne keinen Augenblick daran, anders als mit einem »Ja« zu antworten.
    Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, entstand zwischen ihnen eine seltsame Sprachlosigkeit, bis Anne merkte, dass Charles sie erwartungsvoll ansah. Offenbar forderte er eine Reaktion, die mehr Dankbarkeit oder Emotionen ausdrückte.
    »Ja, geliebter Charles«, sagte sie und zog ihn auf die Beine. »Ja, ja, ja.«
    Er stand neben ihr, seine Schultern auf der Höhe ihres Kinns, und sie atmete den rauchigen Duft von Tabak gemischt mit einem leichten Modergeruch ein, so als habe er seine Kleidung nicht vollständig austrocknen lassen.

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