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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Augenlidern hinterließ, wenn sie blinzelte. Sie übte ihren neuen Familiennamen, sprach ihn morgens vor dem Spiegel über dem Waschbecken laut aus und probte ihre Unterschrift – stolz und schwungvoll. Sie würde Mrs. Charles Redfern sein. Das war alles, was sie wollte.
    Alle erwarteten, dass sie glücklich sei, und weil sie gewohnt war, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, war sie glücklich. Sie gestattete sich keinerlei Zweifel, redete sich ein, dass gewisse Bedenken vor der Hochzeit einfach üblich waren. Es war normal für eine zukünftige Braut, plötzlich nervös und unsicher zu werden. Normal. Üblich. Zu erwarten. Sie wollte Charles’ Frau werden. Alles war, wie es sein sollte. Jetzt musste es nur noch durchgezogen werden. Sie war glücklich – ja, wie sie jedem erzählte, sogar schrecklich, schrecklich glücklich.
    Der einzig falsche Ton im Orchester der Freunde kam von Frieda. Die beiden Freundinnen hatten sich während des vergangenen Jahres auseinandergelebt. Es war ein schleichendes Auseinanderdriften gewesen, ein Vorgang, den Anne nicht so recht hatte wahrhaben wollen. Es war, so sagte sie sich, die übliche Geschichte einer im Erstsemester geschlossenen Studentenfreundschaft. Mit einer Notgemeinschaft gegen die Unsicherheit der neuen Rolle hatte es begonnen, und nachdem man festgestellt hatte, dass man über das Newcomerstadium an einem fremden Ort hinaus wenig gemeinsam hatte, war eine eher flüchtige Bekanntschaft daraus geworden.
    Charles hatte gelegentlich bemerkt, dass sie und Frieda sich offenbar kaum noch sähen. Anne antwortete darauf mit herablassender Nonchalance, das sei ihr auch schon aufgefallen.
    »Ihr beide wart doch unzertrennlich«, sagte Charles eines Tages. Er saß an seinem Schreibtisch, Papierstapel und zerfledderte Lehrbücher aus der Bibliothek aufgeschlagen vor sich. Ein Kaffeebecher hatte einen braunen Ring auf der Schreibunterlage hinterlassen. Sein abgetragenes Tweedjackett hing schief über der Stuhllehne, ein Ärmel streifte den Fußboden. Aus dem Kofferradio mit dickem beigefarbenem Lederbezug tönte der Sender Radio 4. Obwohl es nach zehn Uhr war, lag Anne passend zum sonnigen Samstagmorgen noch träge ausgestreckt im Bett.
    »Nicht wirklich«, antwortete sie mit leichtem Gähnen. »So viel haben wir auch wieder nicht gemeinsam.«
    »Ich dachte, ihr versteht euch.«
    »Hm? Ja schon, bis zu einem gewissen Punkt. War in Ordnung, mit ihr auf Partys zu gehen und sie im Wohnheim um sich zu haben, aber …« Anne verstummte.
    »Aber was?«
    »Kommt sie dir nicht ein bisschen sehr … exaltiert vor?« Anne zog eine Grimasse, versuchte Frieda zu imitieren, saugte die Wangen ein, runzelte die Stirn und zog mit übertrieben ernster Miene eine Schnute.
    Charles lachte ein raues, kehliges Lachen. Anne lachte ebenfalls, stand auf und setzte sich auf seinen Schoß, das Nachthemd um die Knie gerafft. Charles ließ seine Hand unter den dünnen Baumwollstoff gleiten, legte sie flach auf die Innenseite ihres Schenkels. Er starrte nach unten auf die Bewegung seiner Hand, ließ sie langsam weiter nach oben gleiten, bis seine Fingerspitzen den Rand ihres Schamhaars berührten. Er neigte den Kopf, küsste ihre Brüste durch das Nachthemd, während seine Finger mit einer Beharrlichkeit agierten, die bald monoton, beinahe stoisch anmutete.
    »Charles.«
    »Ja«, sagte er, noch immer auf seine Hand starrend, auf das Rosa seiner Haut, das durch den weißen Batist schimmerte.
    »Nicht jetzt. Ich muss aufstehen.«
    Er schien sie nicht zu hören und machte weiter, streichelte sie, ohne sie anzusehen, so als sei er in ein bedeutendes Experiment vertieft, bei der er ihr Innerstes zu erkunden suchte. Seine Finger glitten ein und aus, bis sie sich unbehaglich zu fühlen begann. Sie stand auf und ging auf die andere Seite des Zimmers.
    »Machen wir einen Spaziergang!«, schlug sie heiter vor.
    Charles wandte sich stumm wieder seinem Schreibtisch zu und begann in einem Buch zu blättern.
    Einen Spaziergang machten sie an diesem Tag nicht.
    Auch wenn die Freundschaft abgekühlt war, nahm Anne sich die Zeit, Frieda die Nachricht von ihrer Hochzeit selbst zu überbringen. Sie wollte es sich zwar nicht eingestehen, aber es war ihr an einem bestimmten Punkt wichtig, ihre Besitzansprüche offenzulegen, deutlich zu machen, dass Charles’ Wahl vor allen anderen auf sie gefallen war. Frieda war ein undurchsichtiger Faktor in diesem Spiel, etwas, das Anne stets verunsichert hatte. Sie war, wie Anne

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