Scherbenherz - Roman
gut wie niemanden getroffen«, bemerkte Anne und hörte sofort den entschuldigenden Ton ihrer Stimme. »Ich meine, ich war hauptsächlich mit Charles zusammen.«
Frieda spitzte leicht die Lippen. »Ach ja? Der charmante Charles.« Sie wandte sich Anne zu und sah sie an. Die Augen dunkelgrau und undurchsichtig wie ein Ölfilm. »Wie geht es Charles?«
»Sehr gut, danke. Ausgesprochen gut.« Dann sprudelte sie heraus: »Wir heiraten.«
Die Wirkung war durchschlagend. Frieda schob mit schrillem Quietschen ihren Stuhl heftig über den Parkettboden zurück. Dann starrte sie Anne mit ungläubigem Entsetzen an.
»Ihr heiratet?«
»Ja«, sagte Anne und empfand angesichts der heftigen Reaktion eine seltsame Genugtuung. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die arme Frieda in Charles verschossen war, ihre Gefühle jedoch nie erwidert worden waren. Jetzt musste ihr klar sein, dass es hoffnungslos war. Charles war in Anne verknallt. Nur weil Frieda sich für unwiderstehlich hielt, bedeutete das nicht, dass ihr alle Männer zu Füßen lagen. Und um einiges klarzustellen, fügte Anne hinzu: »Wir haben uns schon vor Wochen verlobt. Nach dem Examen wird geheiratet. Im Sommer. Es gibt da eine entzückende Kirche in der Nähe meiner Eltern in Kent. Und wir dachten …«
»Aber, Anne!« Frieda ergriff Annes Hand. Sie war von der Heftigkeit der Bewegung so überrascht, dass sie zurückschreckte und ein Glas Wasser umstieß. »Entschuldige. Aber, Anne, hast du dir das wirklich gut überlegt? Ich meine, ganz in Ruhe? Reiflich überlegt?«
»Ich weiß nicht, was du meinst, Frieda. Natürlich habe ich es mir überlegt. Ich habe an nichts anderes gedacht, seit wir zusammen sind.«
»Oh Anne …« Frieda verstummte. Sie wandte sich wieder dem Tisch zu und stützte das Kinn in die Hände. »Es ist nur …«
»Was soll sein?«, fragte Anne, die nicht wusste, ob sie wütend oder verstört reagieren sollte.
»Pass auf, Anne. Wir sind nicht mehr so eng befreundet wie früher, und das ist in Ordnung … nein!«, sagte sie, als Anne halbherzig protestieren wollte. »Du musst jetzt nicht höflich sein. Es ist gut so. Ich habe verstanden, dass du lieber mit Charles zusammen sein wolltest. Davon abgesehen hatte ich auch andere Sachen im Kopf. Aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht mehr mag oder dass du mir gleichgültig bist.«
Anne saß mit hängenden Schultern auf ihrem Stuhl. Nie hatte sie Frieda so offen, geschweige denn so erregt erlebt.
»Ich möchte nur eines wissen, Anne. Ist das wirklich das, was du ehrlich, tief in deinem Herzen willst? Natürlich heiraten Mädchen. Das tun gute, anständige, nette bürgerliche Mädchen eben. Aber was ist mit dir, Anne? Was ist mit deinem Diplom? Das ist doch jetzt für die Katz.«
Darüber hatte Anne bis zu diesem Moment noch gar nicht nachgedacht. Seit Charles war ihr Studium zur Nebensache geworden. Pflichtbewusst wie immer hatte sie weiter Klausuren und Hausarbeiten geschrieben und Vorlesungen besucht. Aber ihr Studienfach erschien ihr längst nicht mehr sonderlich interessant, geschweige denn war sie mit Ehrgeiz bei der Sache. Sie war einfach davon ausgegangen, dass ein gutes Examen nicht mehr wichtig sein würde, wenn sie Charles heiratete. Er würde das Geld verdienen, hatte bereits ein Angebot von einer angesehenen Bank in der City, wo sein BWL-Studium gefragt war. Anne wollte sich darauf konzentrieren, das gemeinsame Heim so schön wie möglich zu gestalten. Sie würde Kinder kriegen, sie großziehen, wie ihre Mutter es getan hatte. Genau so hatte sie sich ihr Leben immer vorgestellt. Natürlich war sie eine gute Studentin, und ihre Lehrer an der Schule hatten sie überredet, sich an den Universitäten von Oxford und Cambridge zu bewerben. Aber ihr Wunsch war das nie gewesen. Sie war da hineingestolpert. Und das Studium hatte sich als recht angenehm und leidlich amüsant erwiesen, mehr aber auch nicht. Das Beste an den drei Jahren in Cambridge war Charles.
»Ich muss nicht arbeiten«, erklärte Anne, als sei dies Erklärung genug.
»Aber was ist mit deinem Intellekt? Mit deinem Kopf?«, erkundigte sich Frieda außer sich. »Hörst du einfach auf, dein Gehirn zu benutzen, und wirst eine Gebärmaschine?«
»Frieda, das geht dich wirklich nichts an!«
»Tut mir leid. Ich möchte nur, dass du dir deine Optionen genau überlegst.«
Anne zupfte an einer Ecke ihrer Papierserviette. Weiße Zellstoffflocken fielen wie Schuppen zu Boden. Sie hatte ihren Intellekt nie für besonders
Weitere Kostenlose Bücher