Scherbenherz - Roman
schmerzhafter Macht zurück, dass sie mit der Stoßstange gegen den hinter ihr parkenden Wagen prallte.
Es war ihre Mutter gewesen. Es war Anne, die ihren Blick auffing, sie ohne ein Zeichen des Erkennens ansah. Es waren Annes Augen, die so kühl, so seltsam entrückt, so gleichgültig dreinblickten. Ihre Mutter sah sie an, und ihre Augen waren bar jedes Ausdrucks, lagen blicklos und tief in ihren Höhlen. Und es war Charlotte, die in einer Ecke kauerte, klein, einsam, verängstigt, und sie um Hilfe bat.
Anne; Charlotte
A nne hatte in der Klinik einen Lieblingsarzt. Er hieß Dr. Lewis, bestand jedoch darauf, von ihr als »George« angesprochen zu werden. »Auf diese Weise komme ich mir nicht so alt vor«, erklärte er. Anne war selbst peinlich berührt, als sie sich daraufhin wie ein Backfisch kichern hörte.
Dr. Lewis war jung, hatte gerötete Backen und eine beeindruckende Statur, die zu der Annahme verleitete, dass er später einmal zu Gewichtsproblemen neigen könnte. Sein dunkelbraunes Haar war lockig. Er trug es hinten etwas zu lange und sah aus wie ein Fußballspieler aus den 1970er-Jahren. Er war zweifelsohne ein attraktiver Mann. Seine sachliche, kompetente, freundliche aber nicht zu vertrauliche Art nahm sie sofort für ihn ein. Vor allem fühlte sie sich von ihm nicht bevormundet. Im Gegensatz zu den Schwestern titulierte er sie niemals mit »Liebes«, »Schätzchen«, »Herzchen« oder einer dieser dümmlich anbiedernden Floskeln professioneller Freundlichkeit, die sie hasste. Stattdessen sprach er sie eisern und korrekt als »Mrs. Redfern« an. Und sie ihrerseits hatte ihn nie gebeten, Anne zu ihr zu sagen.
Sie saßen in Dr. Lewis’ Büro. Es war ein kleines Zimmer mit Blick auf den Fluss und hellen Birkenholzmöbeln. An den Wänden hingen imposante Diplome, und die Regale füllten dicke medizinische Fachbücher. Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto, von dem Anne zu ihrem großen Bedauern nur die Rückseite sehen und damit nicht erkennen konnte, ob das Bild eine Ehefrau, eine Freundin oder ein Kind zeigte, von deren Existenz er nie gesprochen hatte. Neben dem Fenster stand ein welker Gummibaum im Topf, die Blätter unter einer Staubschicht verborgen.
»Der müsste mal mit Wasser abgesprüht werden«, sagte Anne und deutete auf die Topfpflanze.
Dr. Lewis schien einen Moment konsterniert, wandte dann den Kopf in die Richtung von Annes Zeigefinger. »Ach so«, murmelte er und lächelte. »Ja, ich weiß. Ich bin ziemlich nachlässig. Einen grünen Daumen kann man mir leider nicht nachsagen. Ihnen?«
»Doch, schon«, erwiderte sie. »Ich meine, ich bin keine Supergärtnerin. Aber ich sehe Pflanzen gerne wachsen. Es beruhigt mich.«
Anne sagte das, als würde sie ihm gerade ein Geheimnis verraten. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie so unsinniges Zeug daherredete. Dr. Lewis war ein vielbeschäftigter Mann. Er hatte Wichtigeres zu tun, als sich über Gartenarbeit auszulassen.
»Verzeihung, ich schweife ab. Sie wollten mit mir über Charles sprechen?«
»Ja«, artikulierte Dr. Lewis gedehnt und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Was ich jetzt sagen muss, fällt mir nicht leicht, Mrs. Redfern …«
»Keine Sorge. Ich bin auf einiges gefasst.«
Er nickte höflich, als wolle er seine Erleichterung darüber ausdrücken, dass sie seiner Ansicht nach nicht zur Hysterie neige, er von ihr erwarte, dass sie sich ruhig und vernünftig verhalte. Anne richtete sich auf ihrem Stuhl gerade auf, holte tief Luft und war entschlossen, sich beherrscht und diszipliniert zu geben. Sie wollte Dr. Lewis’ nicht enttäuschen.
»Wie Sie wissen, haben wir in den vergangenen Wochen häufig miteinander über den Zustand Ihres Mannes gesprochen. Wir haben jetzt einen Punkt erreicht, an dem wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen.« Er hielt inne, gab ihr Zeit, seine Worte zu überdenken. Anne fing seinen Blick kühl und gelassen auf, wartete geduldig darauf, dass er fortfuhr. »Im Allgemeinen können wir davon ausgehen, dass je länger das Koma, desto geringer die Chancen einer Heilung. Mr. Redfern hat eine schwere Gehirnverletzung erlitten und mittlerweile seit sechs Wochen das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Er zeigt keinerlei Reaktionen. Wir haben alles Menschenmögliche getan, um die Schwellungen zu reduzieren und Blutungen im Gehirn zu stoppen. Aber die Prognose ist … Es tut mir leid, das sagen zu müssen … außerordentlich pessimistisch.« Wieder eine Pause. »Vom medizinischen Standpunkt
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