Scherbenherz - Roman
umgänglich; eben mit der schicken, melodischen Intonation, die nur die echten Mitglieder der privilegieren Klasse mit der nötigen Selbstverständlichkeit beherrschen. Sie klang wie jemand, der zwar au f Privatschulen erzogen worden war, sich jedoch stolz als liberale Verfechterin einer Lebenshaltung des sozialen Gewissens bezeichnen würde. Es war die Stimme eines Menschen, der nichts und niemandem etwas beweisen musste, einer Person, die mit sich im Reinen war. »Ich versuche, gleich morgen früh vorbeizukommen. Würde Ihnen das passen?«, fuhr die Stimme fort. »Großartig. Alles bestens, meine Liebe. Wir reden später weiter.«
Dann tauchte sie auf, trat aus dem Haus, klappte ihr Handy zu und steckte es in eine teuer aussehende Handtasche. Maya war zierlich, kleiner als Charlotte – mit schmalen Schultern, Wespentaille und sanft gewölbtem Busen. Sie war in Farben gekleidet, die theoretisch nicht zueinanderpassten, praktisch jedoch eine äußerst attraktive Kombination bildeten: korallenrosafarbene Bluse mit leicht ausgestellten Ärmeln, hellgrauer Rock mit knapp oberhalb der Knie endendem Saum. Ihre Beine waren nackt, gebräunt und sportlich schlank. Sie trug Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen aus demselben schwarzen Lackleder wie ihre Handtasche.
Und dann stellte Charlotte überrascht fest, dass Maya blond war. Sie trug ihr Haar knapp auf Kinnlänge aufwendig nach innen geföhnt und durch eingefärbte Strähnchen aufgehellt, als käme sie geradewegs vom Friseur. Sie war eher attraktiv als schön, mit einer energischen Kinnpartie, Adlernase und hohen Backenknochen. Ihr Make-up war perfekt: glänzende Lippen, ein Hauch von Bräunungspuder und sorgfältig gezupfte, geschwungene Augenbrauen. Die oberen drei Knöpfe der Bluse waren geöffnet und zeigten ein schönes Dekolleté. Sie sah wie eine Frau aus, die die meisten Männer als sexy bezeichnen und die die meisten Frauen für eine Nachrichtensprecherin halten würden.
Bei objektiver Betrachtung erkannte Charlotte, dass sie von Natur aus hübscher war als Maya, diese jedoch mehr aus ihrem Typ zu machen verstand. Ob Letzteres ein Vorteil war, vermochte sie nicht zu entscheiden. Und so beruhigend es für Charlotte auch hätte sein können, dass sie rein äußerlich so verschieden waren, empfand sie es doch als einigermaßen besorgniserregend. Wenn das der Frauentyp war, den Gabriel genügend geliebt hatte, um zu heiraten, was sah er dann in ihr? Die mausgraue Alternative für einen Testlauf? War die Tatsache, dass sie ein komplett anderer Typ war, der Grund, dass er sie anziehend fand? So als ob er – frisch nach der Scheidung – für eine Weile und »just for fun« mal das Gegenteil ausprobieren wollte?
Aber das Schlimmste war, dass Maya mit ihrer lässigen Eleganz, ihrem Sinn für Farben und Stil so selbstsicher und energisch wirkte. Sie schien alles im Griff zu haben und sah nicht wie eine Frau aus, deren geliebter Ehemann sie verlassen hatte. Plötzlich kam Charlotte der beunruhigende Gedanke, dass es nicht Gabriel, sondern Maya gewesen sein könnte, die sich aus dieser Ehe verabschiedet hatte. Was, wenn er gelogen hatte, um sein Gesicht zu wahren? Was, wenn er seine Exfrau noch immer liebte, sich jedoch damit abfinden musste, dass sie ihn verlassen hatte, die Realität verdrängte und so tat, als bedeute sie ihm nichts mehr? Was, wenn …
Genau in diesem Moment wandte Maya den Kopf und sah über ihre Schulter zurück. Ihr Haar schwang bei dieser Bewegung zurück und aus dem Gesicht. Ihr Blick war direkt auf Charlotte gerichtet, schien jedoch durch sie hindurchzugehen. Sie sahen sich eine Sekunde lang verständnislos an: zwei Frauen, die sich fremd waren und doch etwas gemeinsam hatten. Dann drehte Maya sich wieder um und ging weiter.
Es war nur ein Augenblick gewesen, ein kaum merklicher Schatten, der auf den Tag gefallen war, und doch blieb er in Charlottes Bewusstsein haften. Er erinnerte sie an einen anderen Tag, einen anderen Moment, einen anderen Blick, der durch sie hindurchgegangen war. Sie wusste die Erinnerung nicht einzuordnen, und doch hinterließ sie ein seltsam verstörendes und trauriges Gefühl. Es hatte mit diesem Blick durch die Windschutzscheibe zu tun, mit der Tatsache, dass Maya, obwohl sie Charlotte gesehen haben musste, keinerlei Anzeichen des Erkennens oder Verstehens gezeigt hatte.
Erst als sie den Motor wieder startete und aus der schmalen Parklücke fuhr, fiel Charlotte alles wieder ein. Die Bilder kehrten mit solch
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