Scherbenherz - Roman
in ihr Schinkensandwich. Und es war diese betonte, diese einstudiert wirkende simple Geste, diese scheinbare Bagatellisierung all dessen, was gesagt worden war, die Charlotte die Beherrschung verlieren ließ.
»Das geht mich nichts an? Was bildest du dir ein, verdammte Scheiße?«, zischte sie, und der unflätige Ausbruch kam so unerwartet, dass die spannungsgeladene Atmosphäre in der Küche kurz davor stand zu explodieren.
»Hör auf zu fluchen, Liebes«, sagte Anne lahm. »Das passt nicht zu dir.«
»Sag nicht Liebes zu mir!«, konterte Charlotte. »Das passt nicht zu dir!«
»Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so aufregst. Du tauchst mitten in der Woche unangemeldet bei mir auf, obwohl du im Büro sein solltest. Du stürmst hier rein und erwartest, dass ich dir alle möglichen, sehr persönlichen Fragen beantworte …«
»Mit Verlaub, es geht hier nicht nur um dich. Das scheinst du wieder mal zu vergessen, was, Mum?«
»Meine Ehe geht absolut nur mich etwas an«, entgegnete Anne steif und beherrscht. »Sie geht mich und Charles etwas an. Und so ist es immer gewesen.«
»Nein, Mum. Nein«, widersprach Charlotte. Ihre Stimme wurde immer lauter, und Tränen rollten über ihre Wangen. »Es geht dabei auch um mich. Das ist der Knackpunkt.«
Anne streckte automatisch und ohne nachzudenken die Hand aus, um ihrer Tochter die Tränen abzuwischen.
»Rühr mich nicht an«, sagte Charlotte heiser. »Nur das nicht.« Sie griff nach ihrer Handtasche und ging aus der Küche. Anne hörte das Klick-Klack ihrer schicken, zum Bürooutfit passenden Schuhe auf dem Fußboden im Flur. Sie wusste, Charlotte lief vor ihr davon, und doch hielt etwas sie davor zurück, ihr nachzurennen. Sie ließ sie gehen. Die Haustür fiel krachend ins Schloss. Das Schinkensandwich lag angebissen auf der Anrichte.
Anne nahm das noch fettige, gelb verschmierte Buttermesser und schleuderte es quer durch die Küche. Der Griff schlug gegen die Schranktür neben der Spüle, prallte ab, das Messer schlitterte scheppernd über den roten Fliesenboden und blieb nur wenige Zentimeter neben ihrem Fuß liegen. Sie starrte noch eine ganze Weile darauf herab.
Charlotte rannte tränenüberströmt aus dem Haus. Ihr Atem ging keuchend und stockend, immer wieder durch Schluchzen unterbrochen. Sie hasste es, in der Öffentlichkeit zu heulen, hasste es, sich so bemitleidenswert elend und hilflos zu fühlen. Sie hatte kein Papiertaschentuch eingesteckt – Gabriel war derjenige, der solche Dinge stets sorgfältig gefaltet in seiner Jacketttasche bei sich trug. Es blieb ihr daher nichts anderes übrig, als sich mit dem Jackenärmel über das Gesicht zu wischen, und diese kindische Geste machte alles nur noch schlimmer. Sie konnte nicht begreifen, wie ihre Mutter einerseits so gefühlskalt und andererseits so verzweifelt um ihre Liebe bemüht sein konnte. Anne liebte sie, verfolgte sie mit geradezu einengender, übersteigerter Mutterliebe. Das wusste sie. Aber das war nicht immer so gewesen. Das hatte sich erst in den letzten Jahren entwickelt, als Anne erkannt hatte, dass sie Charlotte in jener Zeit nie genügend Liebe gegeben hatte, als es am wichtigsten gewesen wäre. Anne, die nie unbefangen Körperkontakt gesucht hatte, versuchte plötzlich, sie bei jeder Gelegenheit zu berühren, sie zu umarmen, ihr peinliche Küsse auf die Wange zu drücken, ihren Arm zu tätscheln. Charlotte empfand diese Demons-tration von Gefühlen als gewollt und unaufrichtig. Es ekelte sie beinahe an, kam ihr so vor, als versuche Anne, die verlorene Zeit nachzuholen, ihre Tochter mit all der über Jahre aufgestauten Liebe zu überschütten. Sie kam ihr beinahe wie jemand vor, der jahrelang Diät gehalten, sich jede Leckerei versagt hatte, und dann eines Tages beschließt, Schokolade und Schlagsahne tonnenweise zu vertilgen.
Neben dieser verrückten Mutterliebe besaß Anne auch die erstaunliche Fähigkeit, sich vollkommen in sich zurückzuziehen, sich hinter einer Mauer der Unnahbarkeit zu verbergen, sobald sie mit einer zu großen Portion Wahrheit konfrontiert wurde. War es eine Art Abwehrmechanismus? Möglich, sagte sich Charlotte. Aber wie konnte sie nur tatenlos zusehen, wenn die eigene Tochter weinend vor ihr stand und um Hilfe bat?
Als Charlotte ihren Wagen erreichte, hatte sie ihre Tränen getrocknet und konnte klar genug sehen, um mit dem Schlüssel ins Schloss zu treffen. Sie atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Es war eine außergewöhnlich ereignisreiche
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