Scherbenherz - Roman
reizenden Dr. Lewis …«, erwiderte sie mit komisch verstellter Micky-Maus-Stimme. »Ich weiß, dass du mich unbedingt mit einem Mann verkuppeln willst, der dir ›ach so‹ passend erscheint.«
Anne war aufrichtig gekränkt. »Das käme mir nicht im Traum in den Sinn. Ich habe nur gesagt, dass er nett ist.«
»Okay. Gabriel ist auch sehr nett«, bemerkte Charlotte und fügte dann so leise hinzu, dass ihre Mutter es gerade noch hören musste, »vorausgesetzt, du gibst ihm eine Chance, es zu beweisen.«
Anne strich mit so energischen Bewegungen die kalte Butter auf ihr Brot, dass der Teig zerbröckelte. Es ist unmöglich, dachte sie bitter, einfach unmöglich. Nie kann man es ihr recht machen. Sie sollte es einfach aufgeben.
»Du wirkst plötzlich ziemlich schlecht gelaunt.«
Charlotte antwortete nicht.
»Warum bist du nicht im Büro?«
»Aufsichtsratsitzung. Sie haben mir den Nachmittag freigegeben.«
Anne glaubte ihr kein Wort. Ihre verspannte Haltung, der entschlossene Zug um ihren Mund verrieten, dass sie sich über irgendetwas geärgert hatte. Und wenn Charlotte wütend war, wurde sie verbissen und aufsässig. Anne beschloss, die Unterhaltung nicht fortzusetzen, nahm eine Scheibe Schinken aus der Plastikschachtel, legte sie sorgfältig auf die Scheibe Brot und klappte sie zusammen. Sie aß einen Bissen, fing die Brösel mit der hohlen Hand auf und wartete darauf, dass Charlotte sagte, was sie zu sagen gekommen war. Sie fürchtete insgeheim, ihre Tochter könne ihr eröffnen, dass sie schwanger sei. Darauf, was dann kam, war sie allerdings nicht vorbereitet.
»Hast du je daran gedacht, ihn zu verlassen?«
Zuerst begriff Anne nicht, von wem sie redete: von Gabriel? Dr. Lewis? Dann dämmerte es ihr: Sie sprach von Charles. Anne war im ersten Moment verwirrt, ganz überraschend kam die Frage für sie jedoch nicht. Irgendwie hatte sie irgendwann damit gerechnet, so wie sie gewusst hatte, dass Dr. Lewis ihr mitteilen würde, es sei Zeit loszulassen.
»Nein«, antwortete sie ruhig. Sie biss erneut in ihr Sandwich. Sie hätte das weiter ausführen können, wusste jedoch nicht, wohin dieses Gespräch führen würde. Also hielt sie sich zurück, wartete darauf, dass Charlotte die Richtung vorgab.
Ihre Tochter drehte sich um, sah sie an. Tränen standen in ihren Augen. Sie blinzelte in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung.
»Nein?« Charlotte klang ruhig, aber ungläubig. »Nicht mal nach allem, was er dir … uns … angetan hat?« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Wie meinst du das?«
»Du weißt genau, wovon ich rede.«
Anne machte zwei kleine Schritte rückwärts. Die Bewegung war unauffällig, doch der kleine Rückzieher gab ihr Gelegenheit, jene kühle Reserviertheit vorzuschützen, mit der sie sich gegen überraschende Gefühlsaufwallungen zu wappnen pflegte. Sie schaltete sämtliche Gefühle aus, befreite sich aus deren scharfen Klauen und verschanzte sich hinter dem glatten Panzer der Unnahbarkeit. Als sie das Wort ergriff, sprach sie absichtlich sachlich, bar jeglichen Mitgefühls. Sie sprach, als sei Charlotte nicht ihre Tochter – zumindest so, als ignoriere sie diese Tatsache. Das half ihr. Denn sonst lief sie Gefahr, dass die Emotionen sie übermannten, alles vernichteten. Dass all die sorgfältig konstruierten Halbwahrheiten, all das, was sie erduldet hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfielen. Zu viel Mutterliebe wäre in diesem Moment falsch. Sie musste diszipliniert bleiben. Sie musste auf Zeit spielen, um nachdenken zu können.
»Charles war … ist … nicht vollkommen«, hörte sie sich sagen. »Dieses Attribut kann wohl kein Mensch für sich beanspruchen. Aber ich habe einmal eine Entscheidung getroffen, und daran habe ich festgehalten.«
Anne verstummte. Sie überlegte, was sie gesagt hatte. Sie glaubte es tatsächlich. Sie hatte keine andere Wahl. Anderenfalls wäre alles umsonst gewesen.
»Und diese Entscheidung … welche sollte das gewesen sein?«, fragte Charlotte, den Blick unverwandt auf sie gerichtet, die Miene unbewegt.
»Natürlich mein Eheversprechen. Man entledigt sich einer Ehe nicht einfach wie ein altes Kleidungsstück, wirft sie nicht weg, wenn etwas schiefgeht. Das ist allerdings etwas, das deine Generation nicht zu begreifen scheint.« Das hat gesessen, dachte Anne. Charlotte hatte die Anspielung auf Gabriel verstanden und war zusammengezuckt. »Und davon abgesehen, meine Liebe, weiß ich wirklich nicht, was dich das angeht.«
Sie biss erneut
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