Scherbenherz - Roman
Mittagspause gewesen. Zuerst der Schock, Maya zu sehen, dann das bruchstückhafte Aufflackern längst vergessen geglaubter Erinnerungen und schließlich die seltsame Konfrontation mit ihrer Mutter. Kein Wunder, dass sie völlig erschöpft war. Sie musste versuchen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, bevor sie ins Büro zurückkehrte. Sie schniefte laut.
»Charlotte?«
Sie drehte sich um, erwartete halbwegs, ihre Mutter zu sehen – mit ausgestreckten Armen um Verzeihung bittend. Stattdessen stand plötzlich Janet vor ihr, in einem weiten wallenden grauen Poncho aus der dicken südamerikanischen Wolle, die in Handarbeitsläden als »Alpaka« verkauft wurde. Die kleine, mollige Janet schien darin fast zu versinken. Nur ihr rundlicher Kopf und ihre Füße schauten hervor. Angesichts ihres zaghaften Lächelns, ihrer freundlichen Augen und der drolligen Kleidung fühlte sich Charlotte augenblicklich besser.
»Janet«, sagte sie und hoffte, man sah ihr nicht an, dass sie geweint hatte. »Wie geht es dir?«
»Gut, danke.« Janet strahlte. »Bist du bei deiner Mutter gewesen?«
»Ich hatte ein paar Stunden frei. Aufsichtsratsitzung.«
Janet nickte und sah Charlotte aus ihren wasserblauen Augen unverwandt an. »Wie nett von dir«, sagte sie. »Anne hat das sicher sehr genossen.«
Charlotte schnaubte verächtlich. »Das kann man wohl kaum behaupten.«
Janet war verblüfft. Dann schoss mit einem Mal ihr Arm aus den Falten des voluminösen grauen Umhangs, und sie nahm Charlottes Hand. Janet trug dicke Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern. Die Wolle fühlte sich kratzig und doch angenehm auf Charlottes Haut an. Die einfache Geste hatte etwas sehr Herzliches, Beruhigendes. Charlotte lächelte.
»Du machst eine schlimme Zeit durch«, seufzte Janet. Und dann nach kurzem Zögern: »Ich hoffe doch, Gabriel steht dir bei, oder?«
Charlotte war überrascht, dass sich Janet noch an seinen Namen erinnerte. Sie hatte mit ihr nie über ihn gesprochen. Ihre Mutter musste etwas gesagt haben. Sie war seltsam gerührt, dass Janet sich die Mühe gemacht hatte, sich seinen Namen korrekt zu merken.
»Ja, das tut er. Er ist wirklich eine große Hilfe.«
»Freut mich zu hören. Ich bin so froh, dass du jemanden hast … jemand, der lieb zu dir ist und dir den Rücken stärkt.«
Es entstand eine kurze Pause.
»Deine Mutter hat dich auch sehr lieb«, fuhr Janet so leise fort, dass der Wind ihre Worte beinahe verschluckt hätte. »Auch wenn sie es, wie ich wohl weiß, nicht immer zeigt.«
Charlotte sah sie an. Janets untypische Offenheit war beunruhigend und tröstlich zugleich. Sie war überrascht, dass Janet so etwas sagte. Diese Frau, die sie immer als komische Figur abgetan hatte, als zwar nette, aber einfältige Wichtigtuerin, als eine freundliche, einsame Frau mittleren Alters, immer auf der Suche nach Gesellschaft. Diesen Durchblick hatte Charlotte ihr zweifellos nicht zugetraut. Vielleicht hatte sie sie unterschätzt.
»Und sowieso«, begann Janet erneut, ließ Charlottes Hand los und rückte ihren Poncho energisch zurecht. »Du und Gabriel, ihr müsst an einem freien Abend unbedingt einmal zum Abendessen zu mir kommen.«
»Gern«, antwortete Charlotte. Janet meinte es ganz offensichtlich ernst. »Wirklich, wir kommen gern.«
Janet war sichtlich begeistert. »Wunderbar! Einfach wunderbar! Ruf mich an! Sag mir, wann ihr Zeit habt. Dann spreche ich mit Anne, und wir machen uns einen tollen Abend. Ich bin so froh, dass ich dich so unvermutet getroffen habe. Ich wollte dich schon ewig einladen.
»Ich freue mich auch.«
»Tja, dann.« Janet strich ihren Poncho glatt. »Tja, dann«, wiederholte sie. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Wolken am regnerisch grauen Himmel und fing sich in Janets Brillengestell.
»Ich muss jetzt ins Büro zurück, Janet. War schön, dich zu sehen.«
»Geht mir genauso, Charlotte. Fahr vorsichtig.«
Janet blieb auf dem Bürgersteig stehen. Charlotte stieg in den Wagen. Charlotte winkte ihr durch die Windschutzscheibe zu. Sie hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt, als Janet noch immer am Straßenrand stand, eine kleine graue vertraute Gestalt, die langsam in der Ferne verschwand.
Anne; Charles
D ie Trenemans gaben eine Party mit Wein und Käse. Anne graute insgeheim seit Wochen davor; genau genommen, schon seit Cynthia Treneman an die Haustür geklopft und in ihrer ätzend schrillen Stimme »Juhu« gerufen hatte. »Wollte dich und Charles nur schnell einladen. Könnt Ihr? Wir planen eine
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