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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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ein gewisser Ausdruck in seine Augen, und Charlotte wusste, sie würden den Rest des Nachmittags im Bett verbringen, die Jalousien heruntergelassen, abgeschirmt vom Rest der Welt, und würden vom Vorrecht der Liebenden Gebrauch machen, mitten am Tag etwas Unartiges zu tun.
    Später allerdings ging ihr diese Unterhaltung immer wieder durch den Kopf. Warum konnte sie gegenüber Gabriel ihre Wut herauslassen? Warum konnte sie brüllen, ausrasten, sich alles von der Seele reden, wie sie es nie gegenüber ihren Eltern getan hatte? Sie kam zu dem Schluss, dass Angst der Grund gewesen war. Die Angst davor, das fragile Gleichgewicht zu Hause zu zerstören, aus purer Gedankenlosigkeit die explosive Atmosphäre unausgesprochener Vorwürfe zwischen ihren Eltern zum Ausbruch zu bringen. Wurde alles unter der Decke gehalten, konnten sie alle drei so tun, als gäbe es das alles gar nicht. Sie konnten sich wie eine normale Familie verhalten, auch wenn alles nur Theater war. Wichtig war, die Fassade aufrechtzuerhalten: gegenüber der Außenwelt und noch mehr untereinander.
    Aber es gab noch eine Angst, die tiefer saß und die Charlotte sich nur ungern eingestand: die Angst vor dem Vater. Eine panische Angst gemischt mit Bewunderung und der Sehnsucht nach Liebe. Ein so verwickeltes Knäuel der Gefühle, dass Charlotte häufig nicht zwischen den einzelnen Strängen unterscheiden konnte. Die Vorstellung, den Vater zur Rede zu stellen, ihn anzuklagen, ihm deutlich zu sagen, was er ihr angetan hatte, das war undenkbar. Allein der Gedanke jagte Charlotte einen Schauder über den Rücken. Davon abgesehen hätte Charles jederzeit die besseren Argumente gehabt, wäre ihr in jeder Auseinandersetzung wie immer überlegen gewesen. Und er hatte Macht: die Macht, ihr seine Liebe zu entziehen.
    Diese Erkenntnis war ein Schock. Charlotte hatte sich von jeher danach bewertet, wie andere sie bewerteten. Eine außerordentlich anstrengende Lebensart. Sie achtete darauf, wie Passanten auf der Straße ihr Erscheinungsbild beurteilten, war davon abhängig, was die Mädchen in der Schule von ihrem Kleidergeschmack hielten. Sie litt ständig unter der Befürchtung, man könne über sie lachen, sich auf einer Ebene über sie lustig machen, die sie nicht verstand. Als sie älter geworden war, hatte sie Mittel und Wege gefunden, sich durch Logik und Vernunft von diesen Ängsten zu verabschieden. Sie sagte sich zurecht, dass die meisten Menschen wichtigere Sorgen hätten, als sich darum zu kümmern, welchen Lidschatten sie an einem bestimmten Tag auflegte oder welche Blickdichte ihre Strümpfe hatten. Und sie stellte fest, dass ihr das leichter gelang, wenn sie die betreffende Person, die dahinterstand, nicht respektierte, wenn sie deren Meinung als unreif, dumm oder intolerant abtun konnte. Das versuchte sie, so gut es ging, bei Anne. Rein gefühlsmäßig und vielleicht zu Unrecht glaubte sie, ihrer Mutter überlegen zu sein, dass ihre Sicht der Dinge nachdenklicher, rationaler war als Annes oberflächliche Einstellung, die Welt würde sich schon um sie herum zurechtrütteln.
    Ihr Vater allerdings blieb unangreifbar. Er war für Charlotte das Paradebeispiel für einen Freigeist, für einen Intellektuellen, der sich niemals aus Rücksicht auf andere, aus Angst, Schaden anzurichten, Grenzen auferlegte. Das machte aus ihm einen arroganten, tyrannischen Egomanen. Und es machte aus ihm einen kompromisslosen Denker, einen unverbesserlichen Charmeur, und es machte ihn zu einem Mann, dessen Anerkennung seiner Tochter alles bedeutete. Sie wünschte sich so sehr, ihn hassen zu können, fühlte sich jedoch gleichzeitig magnetisch zu ihm hingezogen, wie die Strömung eines Flusses unweigerlich zum Rand eines tosenden Wasserfalls.
    Was war sie schon ohne die Liebe des Vaters? Was sonst war sie wert? Wie konnte sie ihm überhaupt je das alles sagen? Wie sollte sie es anstellen, dass er begriff? Ihn zur Rechenschaft ziehen, wenn ein Teil von ihr sich immer nur nach seiner Zuwendung gesehnt hatte?
    Da sie es nicht gewohnt war auszusprechen, was sie dachte, war sie im Lauf der Jahre immer weniger in der Lage, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Entsprechend chaotisch war ihre Gefühlslage. So war Wut häufig nur der Ausdruck grenzenloser Traurigkeit. Häufig stellte sie während eines Streits, den sie angezettelt hatte, fest, dass sie die Sache am liebsten so schnell wie möglich beenden, zugeben wollte, sich geirrt zu haben, und sich nach einer Versöhnung sehnte.

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