Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
Hand wirkte auf groteske Art losgelöst, wie ein Stück anatomischer Müll, wie eines der Marmorteile, die von antiken Statuen abbrechen: ein Arm hier, ein Fuß dort, das Stück eines Fingers, ausgestellt in der Vitrine eines Museums, Teil eines einst größeren Ganzen.
    Noch immer aufrecht stehend legte sie ihre flache Hand auf seine Backe. Sie fühlte sich schlaff an, und als sie ihre Hand hin und her bewegte, bewegte sich seine Haut wabbelnd mit. Dieses Zeichen von Schwäche verschaffte ihr Genugtuung. Sie lächelte. Sie beugte sich über ihn, streckte den anderen Arm über das Bett aus und blieb mit dem Ärmel an dem Plastikschlauch hängen, der aus seiner Nase hing. Sie presste ihre Hand auf seine andere Gesichtshälfte, hielt sein Gesicht wie eine zärtliche Liebende zwischen ihren Handflächen. Sie stand jetzt tief über ihn gebeugt, ihr Gesicht so dicht über ihm, dass sie ihn riechen konnte – er rocht nach Chemikalien, nach einem scharfen Odeur aus Medizin und schalem Schweiß. Der Geruch ekelte sie und zog sie gleichzeitig an. Sie neigte sich tiefer. Eine ihrer Haarsträhnen lag schlaff über seinem Kinn.
    Einen Moment verharrte sie bewegungslos. Dann, nach diesem Augenblick, der wie die Stille vor dem Sturm anmutete, dem Innehalten, bevor ein Schalter umgelegt wird, gab sie ihm mit einer Hand einen leichten Klaps auf die Backe und fühlte den Widerhall des Schlages an seiner anderen Gesichtshälfte. Sie erstarrte, horchte angestrengt auf das Geräusch der Hand einer Schwester an der Türklinke. Bis auf ferne gedämpfte Schritte blieb alles ruhig.
    Dann, ohne zu wissen, warum oder wie es geschehen konnte, spürte Charlotte, wie ihr Verstand mit einem Mal aussetzte. Es war, als habe sie eine mentale Arterie durchtrennt und durch den Aderlass ihr Denkvermögen verloren. Zurück blieb ein trübes Nichts, ein blinder, leerer Bildschirm. Mit einem Mal begann sie zu schreien, schrie Dinge heraus, von denen sie bisher nicht gewusst oder nicht geglaubt hatte, dass sie in ihr steckten, pure Sinnlosigkeiten allein nur um des Lärmens willen. Vor allem hatte sie das Bedürfnis, Krach zu machen, das ewige Schweigen zu zerreißen, zu fühlen, wie die brüchigen Wände des Glashauses in einem einzigen Scherbenregen zerbarsten. Krach. Leere. Hass. Wut. Tränen.
    »Du verdammter Bastard. Du verfluchter, verfluchter Bastard. Du hast mich auf dem Gewissen. Du hast mich verdammt noch mal kaputt gemacht!«
    Und während sie schrie, schlug sie mit den Händen auf ihn ein, boxte und ohrfeigte, kratzte und rüttelte ihn. Sie versetzte seiner rechten Schläfe einen Boxhieb mit einer Wucht, die sie selbst nicht für möglich gehalten hatte. Aber anstatt zurückzufedern, blieb sein Kopf nur schlaff auf der Seite auf dem Kissen liegen. Sie begann auf seinen Bauch unter der Decke einzuprügeln, schlug wie im Delirium mit den Fäusten auf ihn ein. Ihre Schläge sausten mit dem dumpfen Ton einer zuschlagenden Autotür auf ihn nieder. Und sie brüllte dabei unentwegt weiter; sie brüllte, dass der Speichel spritzte, schrie, um eine Reaktion aus ihm herauszuprügeln, ihn zu zwingen, aufzustehen und zurückzuschlagen, ihre Handgelenke zu ergreifen, damit sie jeden Widerstand aufgäbe. Aber er rührte sich nicht.
    Sie ging mit Ellbogen, Knien und Fingernägeln auf ihn los. Sie schlug mit dem Unterarm auf seine Brust, ließ ihn niedersausen wie die Klinge einer Guillotine. Die Matratze unter ihm vibrierte, das Bett rutschte zur Seite. Sie umfasste seinen Hals mit beiden Händen, presste die Ballen ihrer Daumen auf seinen Adamsapfel, drückte so fest zu, dass ihre Finger schmerzten. Einer ihrer Ohrringe fiel auf das Kissen, lag da, eine Scheibe aus poliertem Gold gegen das Weiß aus gestärktem Leinen. Ihr Haar klebte an der Stirn. Ihre Achselhöhlen waren feucht vor Anstrengung. Dann begann sie zu weinen. Die Tränen flossen lautlos, rannen über ihr Gesicht und auf den weißen Bettbezug, wo sie dunkle Flecken hinterließen wie Regentropfen auf Schnee. Ihre Worte klangen wie ein Aufheulen, waren Schreie der Ohnmacht. Gleichzeitig kam der Schluckauf, erstickte ihr Gezeter, und sie wurde sich der Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst, erkannte, dass es spät war. Und sie hasste sich für ihre Feigheit, dafür, dass niemand es je erklären, nichts ihr je helfen würde. Da war nichts. Nicht hier. War es nie gewesen.
    Sie hörte, wie die Tür aufging, hörte schnelle Schritte hinter sich. Dann wurde sie von kräftigen Armen gepackt, die sie mit

Weitere Kostenlose Bücher