Scherbenherz - Roman
Gabriel behauptete, er habe noch niemanden erlebt, der so sehr auf Abwehr eingestellt sei wie sie. Und Charlotte wusste, dass ihre defensive Haltung lediglich eine Schutzmaßnahme gegen die tiefsitzende Angst war, ihn zu verlieren; gegen die Furcht, sie könne eines Tages seinen Erwartungen nicht mehr gerecht werden.
Charlotte war in Gedanken wieder einmal bei dieser Unterhaltung mit Gabriel, als sie eines Sonntagmorgens ins Krankenhaus fuhr. Dieser Besuch war eine Ausnahme. Aber Gabriel hatte vereinbart, Florence zum Brunch zu treffen, und Charlotte hatte nicht die geringste Lust, mitzukommen und womöglich den ganzen restlichen Tag mit Florence verbringen zu müssen.
»Was, wenn sie den ganzen Nachmittag an uns kleben bleibt?«, hatte Charlotte am Abend vorher gefragt. Er lachte.
»Keine Sorge. Ich kenne keine Frau, die einen so vollen Terminkalender hat. Wir haben Glück, dass sie sich überhaupt für uns freimachen konnte.«
Insgeheim war Charlotte sauer, dass Florence sich in ihre geheiligte Zweisamkeit am Wochenende drängte, beherrschte sich jedoch, um Gabriel nicht zu verärgern. Warum sollte er seinen eigenen Freundeskreis nicht pflegen dürfen? Allerdings wünschte sie sich, die betreffende Freundin wäre in diesem Fall nicht Florence. Sie hatte den Klinikbesuch als Vorwand vorgeschoben. Sie wusste, das Gabriel dem nichts entgegenzusetzen hatte.
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, bot er an. Und sie ahnte, dass es in Wahrheit das Letzte war, was er wollte.
»Nein. Lieb von dir, aber das ist nicht nötig. Ich sehe das ganz entspannt. Seit er im Koma liegt, sind unsere Gespräche zwar einseitig, aber so unkompliziert wie nie zuvor.« Charlotte grinste und gab sich optimistischer, als sie sich fühlte.
Gabriel schien erleichtert. Ihr Liebesleben hatte sich noch immer nicht normalisiert, was ihn bekümmerte, an ihm nagte. Und es zu verdrängen wurde in Charlottes Nähe für ihn immer schwieriger. Zwischen ihnen war eine Art Vakuum entstanden. Von der Begegnung mit Maya hatte sie nichts erzählt. Sie wusste nur zu gut, dass er ihren Vorstoß als Zeichen für eine Persönlichkeitsstörung halten würde. So hatte sie den Vorfall vorerst abgehakt, ohne ihn ganz vergessen zu können. Der unterbewusste Vergleich mit der Vorgängerin beschäftigte sie.
»Okay, Kleines. Wir sehen uns dann später, ja?«
»Klar. Bis später.«
Charlotte war in die Klinik gefahren, weil sie wusste, dass Anne nicht da sein würde – der Sonntagmorgen war ihr heilig, allein der Radiosendung The Archers und der allwöchentlichen Wäsche vorbehalten. Als sie hinter dem Steuer saß, eine endlose Reihe von Ampeln überqueren musste, die von Orange auf Rot umschalteten, sobald sie sich der Kreuzung näherte, merkte sie, dass sie aus unerfindlichem Grund aus dem Gleichgewicht geraten war. Es war einer der typischen wolkenverhangenen und leicht dunstigen Tage, an denen die Luft in London besonders schwer schien, sich wie eine graue matte Masse auf die Haut legte. Und alles, was Charlotte durch die Windschutzscheibe wahrnahm, deprimierte sie noch mehr. Als sie über die Putney Bridge fuhr, hatte sie den Eindruck, als hätten sich all die klischeehaften Bilder anderer glücklicherer Leben gegen sie verschworen, nur um sie zu quälen: Familien, die Buggys am Flussufer entlangschoben; ein Kleinkind, das mit winzigen Gummistiefeln in den Schlamm auf dem Weg patschte; Ruderer mit geröteten Backen, die Boote auf den muskulösen Schultern ins Wasser trugen; fette Kanadagänse, die ins Flachwasser watschelten; Coffeeshops, in denen CDs mit sanfter Musik aus aller Welt abgespielt wurden; und kleine bunte Autos mit jungen Leuten, die zum sonntäglichen Mittagessen in witzige Kneipen fuhren. Jeder hatte seinen Platz, surfte glücklich auf dem sanften Auf und Ab der Gezeiten eines zwanglosen Wochenendes.
Charlotte seufzte. »Komm schon«, schalt sie sich laut. »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden.« Sie schaltete das Radio ein, wählte den Sender Capital FM. In ihren Ohren dröhnten die wummernden Bässe wechselnder Popnummern, die sie zu ihrem Entsetzen gar nicht mehr kannte.
Das Krankenhaus erreichte sie kurz nach zwei Uhr nachmittags, trotz bester Absichten, es eine halbe Stunde früher zu schaffen. Sie brachte die übliche Prozedur hinter sich – Einreiben mit dem Desinfektionsmittel, das mühsame Lächeln für die Schwestern, der lange Weg durch den beigefarbenen Korridor –, bis sie die Tür zum Krankenzimmer des Vaters erreicht
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