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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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hatte. Als sie die Klinke niederdrückte und hineinging, befiel sie plötzlich die Vorstellung, er sei aufgewacht. Für einen flüchtigen Moment war Charlotte überzeugt, Charles zu sehen, wie er aufrecht im Bett saß, sie mit hohlem Blick anstarrte, ein schreckliches Lächeln im Gesicht, die Arme verrenkt, als seien die Knochen gebrochen und könnten das Fleisch nicht mehr zusammenhalten. Vor ihrem geistigen Auge sah er wie ein Skelett aus, das sie einst als kleines Kind in einer Geisterbahn in einem Vergnügungspark während eines Familienausflugs so erschreckt hatte – eine unheimliche verdrahtete Figur, die exakt im gruseligsten Augenblick aus einem Sarg sprang.
    Und bei dieser Schreckensvision begann Charlotte leicht zu transpirieren. Kleine Schweißperlen traten aus den Poren über ihren Backenknochen, wie immer, wenn sie nervös war. Sie blinzelte heftig, spürte, wie kratzig und trocken sich ihre Kontaktlinsen anfühlten, als sie den Raum wieder mit normaler Seeschärfe erfasste.
    Charles lag wie üblich da, die Augen geschlossen, die Arme ausgestreckt an den Seiten. Die Umrisse seiner Zehen zeichneten sich unter der Decke am Fußende deutlich ab. Charlotte trat näher und sah, dass seine Nasenhaare gewachsen waren. Ein dünnes, widerspenstiges, schwarzes Haar bewegte sich wie in einem leichten Lüftchen, fast so, als würde er wieder selbstständig atmen. Er sah geradezu absurd gesund aus: die Gesichtshaut rosig, die Arme trotz künstlicher Ernährung kräftig, die Adern unter der hellen Haut dick und gewunden wie Elektrokabel.
    Plötzlich merkte sie, dass sie noch immer ihren Mantel anhatte. Sie befreite sich aus dem schweren Stoff – ein fester Tweed mit dem Gewicht des Pelzkleids eines toten Tieres, doch für ihren leichten Regenmantel war es noch nicht warm genug –, warf ihn über den Sessel mit dem Holzrahmen. Schließlich stand sie vor ihrem Vater, sah auf ihn herab, prägte sich jede Einzelheit seines Gesichts ein: seine hohen Backenknochen, so markant, dass eine kokette Hausfrau ihn einmal gefragt hatte, ob er Indianerblut in der Familie habe. Seine schmalen, festen Lippen, mit denen er im Wachzustand wütend fauchen und lächeln und küssen konnte, alles in einem fließenden Übergang. Seine Augenlider, die das tiefe Blau der Regenbogenhaut überdeckten und unmerklich zuckten. Sein Haar, dessen Ansatz sich herzförmig über seiner breiten Stirn wölbte, hatte mittlerweile die Farbe verblassten Goldes, durchsetzt mit grauen Strähnen. Seine Nase, zweimal beim Rugby gebrochen, war zu einer vornehmer Adlerform zurechtgewachsen. Das war Charles in seiner ganzen, nicht mehr sehr lebendigen Glorie. Die Essenz seines Wesens schien sich ganz allmählich zu verbrauchen. Seine scharfen Kanten schliffen sich ebenso ab wie seine einst böse Macht, die auf diese Weise nicht länger schrecken oder beeindrucken konnte. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Nicht so.
    Charlotte setzte sich nicht wie sonst neben ihn. Ersparte sich den üblichen Sermon über die Ereignisse der Woche. In Annes Abwesenheit sah sie darin keine Notwendigkeit. Stattdessen stand Charlotte schweigend da, hörte auf ihre eigenen Atemzüge, in die sich die pneumatischen Geräusche des Beatmungsgeräts mischten.
    In diesem Augenblick kehrte die Depression zurück, erfasste sie mit der Wucht eines Windstoßes, einer Sturmböe aus seelischem Schmerz. Sie hatte das Gefühl, sich gleichzeitig übergeben und in unkontrolliertes Gelächter ausbrechen zu müssen. Sie, die normalerweise nicht rauchte, sehnte sich nach der leicht betäubenden Wirkung eine Zigarette. Sie sehnte sich nach Empfindungslosigkeit.
    Sie trat wie in Trance nahe an das Krankenbett ihres Vaters. Sie hob seine rechte Hand leicht an, hielt sie von sich weg wie nasses Seegras am Strand. Sie wog schwer in ihrem lockeren Griff, die Finger schlaff, wie die Beine eines toten Tieres. Nach einigen Sekunden ließ sie los. Charles’ Hand sackte mit einem sanften »Plop« auf das Laken zurück. Sie sah sich um, erwartete beinahe, dass sie jemand fragen würde, was sie da mache. Aber es war niemand da. Sie hob seine Hand wie zwanghaft erneut hoch, hielt sie einen Moment in der Schwebe und ließ sie wieder fallen. Sie fühlte sich kühl und feist und schwer an. Sie wiederholte diese Prozedur mit der Hand dreimal, und jedes Mal war es für sie wie ein kleiner Sieg.
    »Bist jetzt kein so starker Mann mehr, was?«, hörte sie sich sagen, und ihre Stimme klang seltsam ton- und leblos. Seine

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