Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
nach. »Sie ist eine richtige Urgewalt. Zwölf Brüder hatte sie, von denen vier tatsächlich auf der Flucht gestorben sind. Sie war das Nesthäkchen und das einzige Mädchen. Während der Besatzungszeit hat sie als Übersetzerin gearbeitet. Dann hat sie den Vater kennengelernt. Er war ein sanfter Mann und hat sie so geliebt. Und sie ihn auch – auf ihre etwas herbe Art. Als er vor zehn Jahren starb, hat man ihr nichts angemerkt. Sie hat sich nie in die Karten schauen lassen. Immer eiserne Disziplin gewahrt. Als Kind war das manchmal schwierig … Ach, was rede ich da.«
Irmi warf einen vorsichtigen Seitenblick auf ihre Kollegin. Auch Kathi war so eine Urgewalt, als Mutter immer burschikos und kumpelhaft, aber nie eine Kuschelmama. Das Soferl hatte für die Streicheleinheiten die Oma, und die kleine Hanna hatte anscheinend einen sanften Vater als Ausgleich gehabt. Kinder taten sich immer schwer, wenn ihre Familie nicht dem Normbild entsprach. Wenn der Papa der Sanfte war und die Mama kein Blatt vor den Mund nahm. Die anderen Kinder im Dorf plapperten die bösartigen oder einfach nur unreflektierten Gemeinplätze ihrer Eltern nach: Der Hanne ihre Mama hat die Hosen an … Die hat Haare auf den Zähnen … Und der Papa ist ein Waschlappen … Irmi konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das damals gelaufen war.
»Sie sehen ja, meiner Mutter geht es eigentlich gut«, fuhr Hanne fort. »Aber ihre Augen werden immer schlechter. Wir haben die Pflegerinnen letztlich eher als Gesellschafterinnen. Und so hat meine Mutter quasi eine Enkelin, weil ich …«
»Weil meine Enkel immer schon Katzen und Hunde waren. Mein aktueller Lieblingsenkel ist ein Labrador!«, kam es von der Tür. Gerti war wieder da und hatte Tereza mitgebracht. Die hatte eine fast schon beängstigend perfekte Figur, Rehaugen, hohe Wangenknochen und lange brünette Haare mit einem Goldschimmer.
»So, Mama, die Damen wollen sicher mit Tereza allein reden, wir gehen so lange in die Stube.« Und tatsächlich folgte Frau Feldwebel ihrer Tochter, ohne zu widersprechen.
Irmi lächelte Tereza an. »Wie kommen Sie mit so einer resoluten Frau zurecht?«, fragte sie, nachdem sie sich und Kathi kurz vorgestellt hatte.
»Gut, sehr gut. Sie ist lustig. Wir lachen viel. Ich lerne viel besser Deutsch. Und Englisch. Wenn sie mit mich einmal schimpft, gehe ich weg. Dann ist sie brav wie ein … wie sagt man … Fohlen?«
»Lämmlein?«
»Richtig, Lamm. Schwere Sprache, ich mühe mich aber sehr.«
»Sie sprechen gut Deutsch, Tereza!«
»Ja, aber muss üben. Bei uns zu Hause sprechen nur noch die Großeltern Deutsch, wir andern alle Rumänisch. Ich will studieren in Berlin.«
»Und deshalb arbeiten Sie hier?«
»Ja, sicher. Waren Sie schon einmal in Rumänien?«
Irmi schüttelte den Kopf. Nein, sie war noch nie in Rumänien gewesen. Warum auch? Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Kathi, dass sich die Welt durch die Globalisierung verändert hatte und doch irgendwo im Mittelalter hängen geblieben war, als sich die benachbarten Herzöge bekriegt und die Dorfbewohner sich gegenseitig gemeuchelt hatten. The more things change, the more they stay the same . Gab es da nicht einen Songtext von Bon Jovi?
Ihr wurde bewusst, dass sie kaum etwas wusste über die neuen europäischen Länder, abgesehen von dem, was ihre seltenen Ausflüge ins deutsche Fernsehprogramm und die unübersehbaren reißerischen Titel in der Boulevardpresse sie lehrten. Sinti und Roma kamen wie eine Flutwelle, um hier vom Kindergeld zu leben? Rumänische Banden klauten wie die Raben? Sie kannte solche Probleme außerdem aus Sicht der Polizei. Aber was wusste sie über all diese Ionellas und Terezas und deren Familien? Das waren Menschen, die sicher auch nur das wollten, was alle Menschen für sich erhofften: eine lebenswerte Zukunft.
»Wenn Sie sagen, dass Sie kommen aus Rumänien, die Leute halten ihre Handtaschen fest. Wir sind immer Diebe. Dabei sind wir nur geboren auf die falsche Seite von die Eiserne Vorhang«, sagte Tereza.
Was hätte Irmi darauf antworten sollen? Sie schwieg und lächelte Tereza aufmunternd an.
»Mit Frau Gerti ist es leicht«, fuhr die junge Frau fort. »Ionella hat schwerer. Muss zwei Personen zu pflegen. Die Frau Burgi immer so traurig. Weint. Depressiv. Alle, die dort gewesen sind, sagen, dass es immer schwerer wird. Sogar ich weiß, wie es vor einem Jahr mit die alte Frau Schmid noch besser war. Ging spazieren und mit andere Frauen Spiele spielen. Jetzt sitzt nur
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