Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
Reader’s-Digest-Auswahlbücher. Irmi entdeckte Bildbände über Bayern und sogar einen über Norwegen, doch auch darin fand sie kein Testament.
Auf einmal wurde ihr bewusst, wie anachronistisch dieses Wohnambiente war. In vielen modernen Haushalten gab es keine Bücherregale mehr, und auch Wohnzeitschriften bildeten lieber Anbauwände und Wohnlandschaften ab. Kürzlich war sie in einem großen Möbelhaus gewesen, in dem es gar keine Bücherregale mehr gegeben hatte. Stattdessen hatte zur Dekoration ein E -Book-Reader auf dem »Couchtisch aus Wildholz« gelegen. Zu ihren Studienzeiten waren Bücherregale noch Visitenkarten gewesen, frei nach dem Motto: »Ich sehe, was du liest, und ich sag dir, wer du bist.« Ihre Eltern hatten die gleichen Bücher wie die Schmids gehabt, doch sie hatte nach deren Tod die meisten davon einfach achtlos verschenkt. Wieder spürte sie den Verrat an der Kriegsgeneration. Sie war eine Henkerin der Erinnerung.
»Ich hatte so gehofft, wir würden das Testament finden«, sagte Irmi mutlos.
»Schauen wir noch auf dem Dachboden?«, schlug Kathi vor.
Sie kletterten hinauf. Oben waren Wäscheleinen gespannt, und im Lichtkegel des kreisrunden Giebelfensters tanzten die Staubpartikel Ringelreihen. Es gab ein paar alte Bauernschränke, in denen alte Kindersachen, Anoraks und Wintermäntel aufbewahrt wurden. Alte Skier standen herum, Holzrodel und Schlittschuhe staubten vor sich hin. In einem alten Koffer befanden sich fein säuberlich zusammengelegte Stoffreste. In einem anderen waren Wollreste sorgsam zu kleinen Knäueln zusammengerollt.
In einer Ecke stand eine alte Truhe, die mit einem Schloss gesichert war. Kathi sah Irmi fragend an. Als die mit den Schultern zuckte, griff Kathi nach einem Skistock und hebelte das Schloss auf.
In der Truhe lagen zehn Fotoalben. Die beiden blätterten sich durch die Familiengeschichte. In einem der etwas modrig riechenden Alben klebten Fotoecken mit vergilbten Bildern, die Xaver Schmid als jungen Soldaten zeigten. Er war schon ein schneidiger Bursche gewesen, ausgesprochen attraktiv.
»Schad, dass ich den nicht früher kennengelernt hab«, meinte Kathi.
Die Fotos hatten einen gezackten Rand und zeigten Schiffe, Häfen und Landschaften, häufig mit Xaver Schmid im Vordergrund. Auf dem schwarzen Papier stand mit silbernem Stift in feiner Schrift: Svinemünde, Honningsvåg, Lakselv. Auf einer Doppelseite klebten Bilder eines jungen Mädchens, das Zöpfe trug. Vier Fotoecken waren leer, offenbar war eines der Fotos herausgenommen worden.
»Die sieht aus wie Runa«, flüsterte Kathi.
»Ich denke, das ist ihre Oma«, wisperte Irmi zurück. »Oder Uroma.«
Runa war schmaler gewesen als die Frau vom Foto, ansonsten aber war sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.
Der Lichtstrahl war weitergewandert und hatte fast die Truhe erreicht. Irmi saß im Staub des Dachbodens und starrte in die Holzkiste. Es war, als zöge eine ferne Zeit sie dort hinein, und sie hätte einiges drum gegeben, wie in einem Fantasyfilm durch die Truhe in eine andere Welt reisen zu können. Und diese Frau kennenzulernen.
Kathi begann, die Fotoalben zu stapeln. Der erhabene Moment war vorbei.
»Die nehmen wir besser mit, oder?«, meinte Kathi, noch immer im Flüsterton. Irmi nickte.
Sie trugen die Alben nach unten und legten sie auf den Küchentisch.
»Und jetzt?«, flüsterte Kathi.
»Warum flüstern wir eigentlich?«, sagte Irmi in normaler Lautstärke, die in ihren Ohren richtig dröhnte.
»Um die Toten nicht zu wecken?«
Sie durchblätterten die Alben, doch nirgendwo war ein Testament eingelegt.
»Und nun?«
»Wir waren noch nicht im Stall.«
Der Stall war klein, und die Tiere hatte man auf den Hof von Markus Schmid gebracht. Leere Ställe hatten immer etwas Trauriges, fand Irmi. Nach oben klaffte ein Loch, denn auch der Teil der Tenne, der darübergelegen hatte, war abgebrannt und mit ihm die Luke, aus der man Heu hatte abwerfen können.
Es war kalt wie in einer Gruft. Irmi fröstelte, und ihre Finger waren eisig. Neben dem Eingang gab es eine kleine Milchkammer mit einem alten Schreibtisch. Irmi zog die Schublade auf und stieß auf eine Mappe mit alten Protokollen der Milchmesserin. Wieder kein Testament.
Sie sah sich um. Zwei Milchkannen standen herum, und an einem Kleiderhaken hing eine Latzhose, die so vor Schmutz starrte, dass man sie einfach in den Raum hätte stellen können. Am Haken daneben eine Milchschürze mit Gilb und zwei Ostfriesennerze. Ein speckiger Hut.
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