Schicksal des Blutes
Bahamas.“
Ny’lane schwieg. Amy grinste. Er hatte sie wohl damit überraschen wollen. „Mein letzter Besuch dort ist lange her. Weiße Strände, türkisfarbenes Meer. Die Wärme und die Palmen, ein fruchtiger Drink mit Schirmchen … ich find’s klasse, dich begleiten zu dürfen.“ Der Kerl schwieg weiterhin. „Ich werde dir auch nicht im Weg sein. Jonas meinte schon, dass du geschäftlich was zu tun hast.“
„Erledigt.“
„Was?“ Dass Nyl immer in Hieroglyphen sprechen musste.
„War nicht wichtig. Ich hab’s abgesagt.“
Amy richtete sich im Bett auf. „Doch nicht wegen mir, oder?“
„Natürlich nicht.“
Das war eine glatte Lüge. Egal wie schleppend oder durcheinander sein Bass klang, sie spürte es bis in die Haarwurzeln, dass er log. „Wir fahren.“ Nyl gab nur ein Brummen von sich. Es bestätigte sie in ihrer Annahme. „Jonas sagte, es wäre sehr wichtig für dich. Und ich soll bei dir bleiben.“ Wieder nur ein undefinierbares Brummeln. „Cira meint das auch und wegen mir sollst du das nicht verschieben. Außerdem ist es mir sehr recht, aus der Schusslinie zu kommen.“ Mann, war der stur, schwieg immer noch eisern. Oder war er ohnmächtig geworden? Konnten Vampire sich ins Koma saufen? „Nyl?“
„Hm?“
Erleichterung durchflutete sie, bis sie sich bewusst wurde, wie dämlich die Gefühlsregung war. Schließlich wusste sie von Cira, was Ny’lane für einer war. Auch wenn die Zusammenstellung von Nyls Charakteristika nicht paradoxer sein könnte. Hilfsbereit – egoistisch. Verlässlich – unberechenbar. Intelligent – unzivilisiert. Sexy – gefährlich und unentwegt süchtig nach weiblichem Blut.
Vielleicht lag es in der Unterdrückung ihrer eigentlichen Natur, sich wie in einem ängstlichen Kokon gefangen zu fühlen. Ein Gefühl, als müsste sie aufspringen und ausbrechen, bemächtigte sich ihrer, erhöhte ihren Puls. Sie wollte sich endlich wieder lebendig fühlen. Nyl lebte als Outlaw und niemand, nicht einmal Jonas, ahnte, wer er war. Und wenn sie es sich recht überlegte, kitzelte es sie seit Längerem, genau dies herauszufinden. Und wenn nicht sie, wer dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann?
Amy legte sich die Hand wie eine Diva an die Wange, als könnte Ny’lane sie sehen. „Bitte lass uns fliegen, ja? Mir fehlen fast zwei Wochen und ich weiß kaum etwas darüber. Die Reporter, das FBI, Cira ein Vampir. Was noch? Bitte, ich … ich muss hier weg.“ Amy verkniff sich ohne Probleme das Grinsen, denn einerseits war das alles nicht gelogen, andererseits versuchte sie Nyl hauptsächlich aus dem Grunde weichzukochen, damit er sie mit nach Nassau nahm, in sein Versteck, an den Rand der Gesellschaft der Blutsauger. Euphorie erfasste sie. Sie hatte geschworen, die Homo animal niemals zu verraten, niemals wieder einen Artikel über sie zu schreiben, doch weitere Informationen zu sammeln, nur für sie persönlich, würde niemandem schaden. Im Gegenteil. Es half ihr bereits jetzt. Und Nyl schien das anziehendste und größte Geheimnis von allen. Darauf verwettete sie ihren rechten Busen. „Ny’lane?“
„Ja.“
„Ja, du bist noch da? Oder, ja, wir fliegen?“ Nyl brummte und Amy wusste, dass sie gewonnen hatte.
„Du wirst weder Strand noch Palmen zu Gesicht bekommen.“
„Aber einen Caribbean Sunrise mit Schirmchen gibt’s?“ Sie sah Nyl förmlich vor sich, wie er hinter der Sonnenbrille mit den Augen rollte, die sie zu gern einmal sehen wollte. Welche Farbe sie wohl hatten? „Wunderbar! Wann geht’s los?“
„Gleich.“
„Was?“ Jetzt hatte er sie doch aus dem Konzept gebracht. Sie warf die Bettdecke zurück und bemerkte, dass sie noch ihre Schuhe trug. Die hätte er ihr wenigstens ausziehen können. Herrje! „Ich muss vorher auf jeden Fall unter die Dusche. Darf ich dein Bad benutzen?“ Ein lautes Rumpeln im Hörer ließ sie innehalten. Oder war es nebenan gewesen? „Nyl?“ Es folgte eine seltsame Stille. „Nyl, bist du noch da?“
„Klar.“ Es raschelte. „Geh duschen. Ich hole dich in zwanzig Minuten ab.“
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Jonas lehnte die Unterarme auf den champagnerfarbenen Stein des Aussichtsturmes und sah durch die Maueröffnung auf San Francisco hinab. Der Coit Tower war seit den für die Menschen unerklärlichen Ereignissen der vergangenen Tage aus Sicherheitsgründen gesperrt. Mit seinem scharfen Blick erkannte er das Ausmaß der Zerstörung. Doch der Schock der jüngsten Nacht hatte sich gelegt wie der Tornado,
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