Schicksal in seiner Hand
mich nicht zu lange warten, mein Herz. Ich bin wirklich sehr müde.«
Er stützte sich auf das Geländer und erklomm mühsam Stufe um Stufe. Hart stieß der Krückstock auf.
Yvonne holte eine große Kanne, füllte sie mit Wasser, band die Rosen auf und ordnete sie. Dann stellte sie den Strauß im Wohnzimmer auf den Flügel.
In einem plötzlichen Entschluß nahm sie wieder eine Blume heraus und gab sie in eine schmale Silbervase.
Als sie wenig später das Zimmer ihres Mannes betrat, war Robert bereits eingeschlafen. Er lag auf der Seite, so daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Leise stellte sie ihm den Tee hin, zog die Decke über seine Schultern, löschte das Licht und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
Yvonne konnte keinen Schlaf finden. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Tausend Gedanken stürmten auf sie ein. Sie glaubte, ihr Kopf würde zerspringen. Eine Uhr schlug fünf. Sie suchte auf ihrem Nachttisch nach Tabletten.
»Robert«, flüsterte sie, »mein Gott, Robert, wo führt das alles hin? Halt mich fest. Spürst du denn nicht, daß ich sonst verloren bin?« Tonlos bewegten sich ihre Lippen weiter wie in stummem Gebet.
Schließlich stand sie auf, warf sich einen Morgenrock über und huschte die Treppe hinunter. Sie brauchte dringend frische Luft. Leise knirschte der Kies unter ihren Füßen. Hoffentlich konnte sie niemand sehen! Man hätte sie sonst womöglich für eine Traumwandlerin gehalten.
Sie blickte zur Straße. Nichts regte sich. Da sah sie, daß Johann den Wagen nicht in die Garage gefahren hatte. Sicher war er zu müde gewesen.
Wie magnetisch angezogen, ging Yvonne auf den Wagen zu und blickte durchs Fenster. Im Fond lag ein großer brauner Umschlag. Wahrscheinlich hatte ihn Robert vergessen, dachte sie, und schaute genauer hin. Im matten Schein der Straßenlaternen konnte sie die Aufschrift nur schwer entziffern.
»Dr. Thomas Bruckner.«
Hatte sie den Verstand verloren? Wie kam ein an Thomas adressiertes Kuvert in die Hände ihres Mannes? Yvonne griff sich an die Stirn. Erneut fing sie an zu buchstabieren. Sie hatte sich nicht getäuscht.
Mit jagenden Pulsen eilte sie in ihr Zimmer, suchte den zweiten Autoschlüssel, hetzte zurück, sperrte den Wagen auf und fiel erschöpft in die Polster. Dann beugte sie sich über die Rücklehne und griff nach dem mysteriösen Umschlag.
Unschlüssig hielt sie ihn in der Hand. Er war bereits erbrochen. Also konnte sie den Brief – ohne daß es auffiel – lesen. Hier im Wagen? Nein!
Wenig später saß Yvonne wieder in ihrem Zimmer – fassungslos über die Röntgenbilder gebeugt.
Theo Wagner? – Sie verstand überhaupt nichts mehr.
Wie kamen die Aufnahmen des Oberarztes ins Auto ihres Mannes? Wie kam der Name Bruckner auf das Kuvert? Und schließlich – Wie kam Theo Wagner nach München? Sie wußte, daß der Oberarzt die Klinik während Roberts Abwesenheit nicht verlassen hatte.
Zögernd nahm Yvonne den Brief aus dem Umschlag, las und stutzte.
Theo Wagner, geb. am 29. Oktober 19 …
»Neunundzwanzigsten Oktober«, wiederholte sie kopfschüttelnd.
Das war doch Roberts Geburtstag! Erneut studierte sie den Befund. Sie versuchte verzweifelt, zu verstehen, was da schwarz auf weiß geschrieben stand. Sie konnte es einfach nicht.
Yvonne richtete sich stöhnend auf. Sie fröstelte. War sie eingeschlafen? Neben ihr lag das braune Kuvert. Die Röntgenbilder und der verhängnisvolle Brief waren zu Boden gefallen.
Nur allmählich gelang es ihr, in die Gegenwart, in die grausame Wirklichkeit zurückzukehren. Noch hegte sie Hoffnung. Warum sollten dies nicht tatsächlich die Röntgenbilder irgendeines bedauernswerten Patienten sein, der zufällig Theo Wagner hieß und am selben Tag wie Robert geboren war?
Sie mußte der Sache nachgehen. Sie mußte Klarheit haben, soviel stand für Yvonne fest. In ein paar Stunden konnte sie den Röntgenologen in München anrufen. Seine Adresse stand ja auf dem Briefkopf.
Aber zunächst mußte der braune Umschlag samt Inhalt zurückgebracht werden. Sie notierte Dr. Schneiders Adresse und stahl sich abermals hinaus.
Auf der Treppe vernahm Yvonne ein Geräusch.
Wie gehetzt lief sie aus dem Haus zum Wagen hinaus.
Bald darauf humpelte der Professor, schwer auf seinen Stock gestützt, im Morgenrock den Kiesweg entlang.
Geistesgegenwärtig startete Yvonne. Sie wendete die schwarze Limousine, steuerte auf das Parktor zu, ließ den Motor laufen und stieg aus. Vor Robert hielt sie den Schritt. Besorgt sah sie ihn
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