Schicksalsbund
gab ihr zu denken. Sie hatte ihn richtig gern gemocht. Sie hatten viele Stunden allein miteinander verbracht und daran gearbeitet, ihr Lagerhaus in eine Wohnung und ein Büro umzuwandeln. Wie konnte es sein, dass sie in all der Zeit nicht gewusst hatte, was er war?
Sie fühlte, wie er seine Fingerspitzen von ihr nahm und das Brennen nachließ. Sie konnte Blut in ihrem Mund schmecken. Die Reizüberflutung wurde schlimmer, nicht besser. Sie sagte nichts dazu, denn wem hätte sie es sagen können? Wem konnte sie vertrauen? Sie wagte nicht, ins Krankenhaus zu gehen. Und was hätte ein Arzt schon für sie tun können? Nur Whitney hätte eventuell eine Chance, und er war ein Monster ohne Skrupel. Wahrscheinlich würde sie aus der Narkose erwachen und feststellen, dass er ihr Flügel verpasst hatte.
»Es sollte ihr besser gehen, wenn ich dieses Medikament in ihren Tropf geben kann«, sagte Joe und lehnte
sich zurück. Zum ersten Mal wirkte er angestrengt, und sein gut geschnittenes Gesicht wies Anzeichen von Erschöpfung auf.
Mack streckte die Hand aus. »Was ist das?«
Kane drückte Mack die Medizin in die Hand. Mack schloss die Augen, um jeden Anblick abzublocken, und konzentrierte sich auf die Ampulle, die er zwischen den Handflächen hielt. Er atmete tief ein, schnupperte an dem Inhalt, suchte nach Spuren von Gift und versuchte sich ein Urteil darüber zu bilden, ob das Medikament Jaimie schaden konnte. Es bereitete ihm Sorgen, dass Jaimie Joe nicht als Schattengänger erkannt hatte und dass Gideon mit seinen Adleraugen ihn nur mit Mühe entdeckt hatte. Er hätte nicht gewusst, dass Joe ein Schattengänger war, wenn er ihm auf der Straße begegnet wäre. Wenn Whitney jemals herausfand, dass sowohl Joe als auch Gideon von anderen Schattengängern nicht als ihresgleichen erkannt werden konnten, dann würden beide Männer in Gefahr sein. Whitney würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um den Grund herauszufinden. Mack reichte Joe die Ampulle und sah zu, wie er sie in Jaimies Tropf leerte.
»Ich gebe ihr auch ein Schmerzmittel«, sagte Joe. »Es wird sie schläfrig machen. Ich bliebe gern ein paar Stunden hier, um regelmäßig nach ihr zu sehen. Sie ist noch nicht vollständig außer Gefahr.«
Mack wusste, dass Javier im ersten Stock war und Jaimies Computer benutzte, um Joe Spagnolas Geheimnisse aufzuspüren. Er nickte. »Danke.«
Er hatte Kane immer noch nicht wirklich ins Gesicht gesehen. Er war nicht sicher, ob er das konnte, ohne ihm eine in die Fresse zu hauen. Kane hatte den Sergeant
Major gebeten, jemanden auf Jaimie anzusetzen, ohne sich vorher auch nur mit ihm abzusprechen. Damit er jemanden von einem der anderen Teams abzog – und Joe Spagnola war eindeutig ein hervorragender Schattengänger –, hatte Griffen garantiert eine Gegenleistung verlangt. Mack wusste, dass Jaimie auf irgendeine Weise einen Teil der Schuld würde zu begleichen haben.
Joe stand auf und streckte sich.
»Ich würde mich hier mit Vorsicht bewegen«, sagte Mack.
Joes Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich habe mich eingehend damit beschäftigt, welche Bereiche dieses Raums vor jedem sicher sind, der auf den Dächern und an den Fenstern sein könnte. Dein Scharfschütze kommt nicht an mich ran.«
»Nicht, wenn er draußen ist«, stimmte Mack ihm zu.
Joe zögerte und ging dann zum Kühlschrank. Er nahm ein Bier heraus, schüttelte den Kopf und war eindeutig unsicher, ob er Mack glauben sollte oder nicht. »Wie ich sehe, hat sich jemand an meinem Corona gütlich getan.«
»Ich dachte, es sei Jaimies Bier«, sagte Kane.
»Sie trinkt nicht«, sagte Joe und trank langsam einen großen Schluck.
Mack blickte finster. »Du scheinst viel über Jaimie zu wissen.«
»Ja, dass sie Alpträume hat. Schlimme Alpträume.«
Mack konnte einen Moment lang nicht denken; das Rauschen in seinem Kopf war so laut, dass seine Vernunft darin unterging. Er stand abrupt auf, ging zu einem der Fenster und starrte hinaus.
»Wirst du deinem Scharfschützen demnächst mal sagen, dass er von mir ablassen soll?«, fragte Joe.
»Ich hatte es vor.« Mack wirbelte zu ihm herum. »Aber ich habe es mir anders überlegt. Woher zum Teufel könntest du wissen, dass Jaimie Alpträume hat?«
Joe zuckte die Achseln. »Vor zwei Wochen hat sie wenige Meter von ihrer Haustür ein Mordopfer gefunden. Es war ein ziemlich übler Anblick. Eine Frau, die vor ihrer Tür erstochen worden war. Sie hatte viele Messerwunden. Jaimie war nicht zu Hause gewesen, und
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