Schicksalsfäden
keiner unter seinen Leuten, der nicht sein Leben für Cannon geopfert hätte. Das galt auch für Grant.
Grant klopfte an Cannons Tür, und Mrs. Dobson, die Haushälterin, öffnete ihm. Die dicke, mütterliche Frau mit dem silberglänzenden Haar lächelte freudig, als sie Grant erblickte.
»Sie sind schon wieder ohne Hut unterwegs, Mr. Morgan. Sie werden sich bei dem kalten Nordwind noch den Tod holen, aber Sie wollen ja nicht auf mich hören.«
Grant zog sich den schweren schwarzen Mantel aus und gab ihn der Haushälterin. »Ich kann keinen Hut tragen, Mrs. Dobson, ich bin nun wirklich schon groß genug.« Er spielte auf die turnhohen Hüte an, die gerade sehr in Mode waren und ihn wirklich lächerlich aussehen ließen.
»Auch wenn Sie keinen Hut tragen, wird niemand auf die Idee kommen, Sie seien besonders klein geraten, Mr. Morgan.«
Grant grinste und kniff liebevoll ihre Wange, woraufhin sie in gespielter Empörung nach Luft schnappte. Sie beide wussten, dass sie ihn von allen Bow-Street-Runner am liebsten hatte.
»Wo ist Cannon?«, fragte Grant. Seine grünen Augen glitzerten.
Mrs. Dobson deutete in Richtung Cannons Büro.
Das Revier in der Bow Street Nr. 4 umfasste das Haupthaus, einen kleinen Garten, Bürobauten, einen Hof und eine Zelle für Gefangene.
Cannon war der Sohn einer sehr wohlhabenden Familie und hätte sich eine wesentlich luxuriösere Umgebung leisten können, aber das entsprach nicht seiner Natur. Seine Kraft und Leidenschaft galt der Gerechtigkeit und wie man sie durchsetzte. Er hatte keine Zeit für Oberflächlichkeiten.
Das Leben war für Cannon eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Es hieß, seine junge Frau hätte ihm auf ihrem Sterbebett das Versprechen abgenommen, nie mehr zu heiraten, und Cannon hatte seinen Schwur gehalten. Er ging ganz in seiner Arbeit auf. Selbst seine engsten Freunde hatten ihn niemals persönliche Gefühle zeigen sehen. Was in ihm vorging, war ein Geheimnis.
Auf dem Weg zum Büro des Chefs begegnete Grant auf dem Flur zwei Kollegen. Die Runner Flagstad und Keyes, beide um die vierzig und damit die Ältesten in der Truppe, wollten gerade gehen.
»Muss mal wieder das Königs verlängerten Rücken freihalten!«, rief Keyes fröhlich. Flagstad war auf dem Weg zu seinem Posten in der Bank of England, wo heute die Dividenden ausgeschüttet werden sollten.
»An was bist du heute dran?«, fragte Flagstad Grant. Sein wettergegerbtes Gesicht strahlte Gutmütigkeit aus. »Halt sag nichts, lass mich raten: Ein Banküberfall? Oder ein Raub auf der Westside, den du für ein kleines Vermögen aufklärst?«
Grant hatte im Lauf der Zeit schon öfter Spott dieser Art über sich ergehen lassen müssen und er hatte sich daran gewöhnt. Er war nun einmal der erfolgreichste Bow-Street-Runner und hatte mehr Kriminelle gefasst als alle seine Kollegen zusammen. »Ich nehme, was man mir gibt«, sagte er leichthin.
»Die hohen Tiere stellen dich doch nur an, weil du so ’n feiner Pinkel bist«, feixte Keyes. »Hat mir doch gerade erst ’ne Lady gesagt, Mr. Morgan ist der einzige Runner, der auch wie einer aussieht.« Er schnaubte verächtlich.
»Als ob das Aussehen irgendetwas damit zu tun hat wie man letztlich seinen Job erledigt.«
»Ich soll ein ›feiner Pinkel‹ sein?«, fragte Grant ungläubig und blickte an seiner gepflegten aber unauffälligen Kleidung herab. Dann musterte er die dandyhafte Erscheinung von Keyes. Das Haar nach neuester Mode frisiert eine goldene Krawattennadel am Bauch, die seidenen Blumenstickereien an seiner Weste. Gar nicht zu reden von dem cremefarbenen breitkrempigen Hut der wie zufällig schräg und keck auf dem Kopf saß.
»Vor Gericht kann man nicht herumlaufen, wie man will«, verteidigte sich Keyes, der den Blick wohl bemerkt hatte.
Flagstad zog Keyes glucksend mit sich, ehe die beiden sich in die Haare kamen.
»Moment mal!«, rief Keyes noch. »Ich habe gehört du hättest ’ne Wasserleiche aus der Themse gefischt.«
»Stimmt.«
»Mann, du bist so gesprächig wie ’ne Muschel«, sagte Keyes ungeduldig. »Was ist jetzt mit dem Fall? War das Opfer männlich oder weiblich?«
»Warum interessiert dich das?«, fragte Grant den Keyes Neugierde überraschte.
»Nimmst du den Fall, oder was?« Keyes war hartnäckig.
»Wahrscheinlich.«
»Ich kann mich darum kümmern, wenn du willst«, bot Keyes an. »Kann mir kaum vorstellen, dass du dich mit einer toten Frau beschäftigen willst, Grant. Wo die doch so schlecht zahlen.«
Bei Keyes
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