Schicksalsfäden
die sich gestern in der fraglichen Zeit bei der Waterloo Bridge über die Themse gesetzt haben. Vielleicht hat jemand etwas gesehen oder gehört, was uns weiterbringen könnte. Halten Sie mich jedenfalls über die Ermittlungen auf dem Laufenden. Wo wird Miss Duvall in der Zwischenzeit bleiben?«
Grant starrte auf den Kaffeesatz in seiner Tasse. Als er antwortete, versuchte er seiner Stimme einen möglichst geschäftsmäßigen Ton zu geben. »Bei mir.«
»Sie wird doch Verwandte oder Bekannte haben, die sich gern um sie kümmern würden.«
»Bei mir ist sie am sichersten.«
Grant hielt Cannons fragenden Blick stand. So lange seine Leute ihre Arbeit machten, interessierte sich Cannon nicht für ihr Privatleben. Aber er hatte ein Herz für Frauen und Kinder und konnte es nicht akzeptieren, wenn sie schlecht behandelt wurden.
Die Stille zwischen den beiden Männern wurde unangenehm lang, bevor Cannon schließlich sagte: »Ich glaube, ich kenne Sie gut genug, Grant, um zu wissen, dass Sie die Situation nicht ausnutzen werden, wie auch immer Ihre persönlichen Gefühle aussehen mögen …«
»Ich könnte niemals einer Frau Gewalt antun«, sagte Grant kühl, »wenn Sie das meinen.«
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte Cannon beruhigend. »Ich sprach von Beeinflussung und Verführung.«
Grant war nahe dran, seinem Chef zu sagen, er solle sich um seine eigenen verdammten Angelegenheiten kümmern. Nur mühsam beherrscht stand er auf, stellte seine Tasse auf den Tisch und sagte: Ach brauche von Ihnen keine Belehrungen. Ich werde Miss Duvall kein Haar krümmen, darauf haben Sie das Wort eines Ehrenmannes. Sie sollten jedoch nicht vergessen, dass sie alles andere als ein unschuldiges Mädchen ist. Sie ist eine Hure und Beeinflussung und Verführung gehören zu ihrem Geschäft. Daran ändert auch ihr Gedächtnisschwund nichts.«
Offenbar unbeeindruckt legte Cannon die Hände aneinander und sah Grant nachdenklich an. »Ist Miss Duvall einverstanden damit in Ihrem Haus zu bleiben?«
»Wenn sie es nicht ist kann sie jederzeit gehen.«
»Gut. Aber ich erwarte natürlich, dass Sie ihr das klar sagen.«
Grant verbiss sich einen Kommentar und nickte nur knapp zur Bestätigung. »Noch etwas?«, fragte er fast spöttisch.
Cannon sah ihn noch immer streng an. »Ja. Vielleicht würden Sie mir noch erklären, warum es Ihnen so wichtig ist Miss Duvalls Gastgeber zu sein, wo Sie sie doch so gar nicht ausstehen können.«
»Ich habe nie gesagt dass ich sie nicht ausstehen kann.«
»Hören Sie doch auf«, sagte Cannon jetzt fast freundschaftlich »Nachdem Sie durch Miss Duvalls Verleumdungen so mit Dreck aus der Gerüchteküche beworfen wurden, ist Ihr Groll mehr als verständlich.«
»Sagen wir doch einfach: Das ist meine Gelegenheit das Konto wieder auszugleichen und nebenbei noch meine Arbeit zu erledigen.«
»Wie auch immer. Ich wünsche, dass Sie Ihre Hände von ihr lassen, bis der Fall geklärt ist oder ihr Erinnerungsvermögen zurückgekehrt ist.«
Fast platzend vor Zorn erwiderte Grant: »Ihr Wunsch ist mir wie immer Befehl.«
Seufzend widmete sich Cannon wieder seinen Papieren. »Schön wär’s«, murmelte er und entließ Grant mit einer knappen Geste.
»Auf Wiedersehen, Chopper«, rief Grant noch, aber die Katze wandte sich nur verächtlich ab.
Mayfair galt als der nobelste Stadtteil Londons und Park Lane als sein Zentrum. Vornehme Stadtvillen bildeten Prachtstraßen, die von Wohlstand und Macht zeugt en und normalsterbliche Passanten davon überzeugten, dass sie klein und unbedeutend waren.
Grant hatte schon zu oft hinter diese prächtigen Fassaden geblickt, um sich noch von ihnen täuschen zu lassen. Er kannte intimste persönliche Details aus dem Leben der aristokratischen Bewohner und so hielt sich sein Respekt in Grenzen. Die Verfehlungen und Sünden der Oberschicht waren keine anderen als die der niederen Klassen. Man hatte nur die Mittel, sie hinter hohen Mauern zu verbergen. Das war der einzige Unterschied. Doch manchmal wähnten sich die oberen Zehntausend tatsächlich über dem Gesetz stehend, und diese arroganten Sünder überführte Grant am liebsten.
Der Name von Viviens letztem Beschützer war William Henry Ellyot, besser bekannt als Lord Gerard. Als zukünftiger Earl von Norbury bestand seine Haupttätigkeit darin, auf den Tod seines Vaters zu warten; um dann dessen Titel und Vermögen zu erben. Zu schade für ihn, dass sich sein Vater bester Gesundheit erfreute und voraussichtlich noch lange
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