Schicksalsfäden
letzter Bemerkung wieherte Flagstad vor Lachen.
Grant hingegen wurde misstrauisch. »Wie kommst du darauf, dass es eine Frau war?«
Keyes blinzelte und zögerte einen Moment bevor er antwortete: »Nur ’ne Vermutung, Kumpel. Und? War’s ’ne Frau?«
Grant ignorierte die Frage, sah Keyes noch ein letztes Mal scharf an und betrat dann Cannons Büro.
Sir Ross saß mit dem Rücken zu Grant an seinem massiven Eichenholzschreibtisch, der vor den großen Fenstern zur Straße hin stand. Am einen Ende des Schreibtischs lag eine große, graubraun gestreifte Katze, die bei Grants Eintreten gelangweilt aufblickte. Vor Jahren hatte man sie auf den Stufen zur Bow Street Nr. 4 aufgelesen. Sie hatte bei einem Kampf oder einem Unfall ihren Schwanz verloren und ihr Name war Chopper.
Chopper war sehr wählerisch, wenn es um ihre Gesellschaft ging. Den einzigen Menschen, den sie um sich duldete, war Sir Ross Cannon.
Cannon drehte sich um und wirkte erfreut, als er Grant sah. Er lächelte nicht. »Guten Morgan. Da drüben steht Kaffee, wenn Sie möchten.«
Kaffee lehnte Grant nie ab. Er war ein noch leidenschaftlicherer Kaffeetrinker als Cannon. Für beide musste er sehr schwarz und sehr heiß sein. Grant schenkte sich eine Tasse ein und setzte sich auf den von Cannon angebotenen Stuhl. Grants Chef war noch in Dokumente vertieft und unterschrieb schwungvoll eines nach dem anderen.
Während Grant wartete, schaute er sich in dem Raum um. An der einen Wand hingen Pläne der Stadt und Karten der angrenzenden Grafschaften sowie Grundrisse der Westminster Hall, der Bank of England und anderer wichtiger Gebäude in London. An der gegenüberliegenden Wand standen Bücherregale, deren Last einen Elefanten in die Knie gezwungen hätte. Die Möbel waren aus Eichenholz, schlicht und solide. Ein Globus mit Mahagonifuß stand in der Ecke. Eine Wand war leer bis auf ein großes Gemälde, dass eine walisische Landschaft mit Fluss, düsteren Wäldern und Hügeln zeigte. Inmitten der Londoner Künstlichkeit hatte das Bild etwas sehr Ursprüngliches.
Schließlich blickte Cannon auf. Sein scharfes Profil und seine grauen Augen gaben ihm ein fast wölfisches Aussehen. Mit einer etwas freundlicheren Miene hätte man ihn sogar als gutaussehend bezeichnen können. Seine Augenbrauen waren fragend hochgezogen.
»Also«, sagte er, »was ist jetzt mit dieser Wasserleiche? Muss man den Gerichtsmediziner einschalten?«
»Es geht hier nicht um eine Wasserleiche«, antwortete Grant. »Das Opfer … Die Frau hat überlebt. Ich habe sie noch letzte Nacht in mein Haus gebracht und Dr. Linley hinzu gerufen.«
»Wie fürsorglich von Ihnen.«
Grant zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Lady wiedererkannt. Ihr Name ist Vivien Duvall.«
»Etwa die, die Sie auf dem Wentworth Ball hat abblitzen lassen?«
»Falsch. Ich habe sie abblitzen lassen«, sagte Grant mit leichter Verärgerung in der Stimme. »Die Geschichte ist bei all dem Geschwätz nur verdreht worden.«
Cannon machte ein amüsiertes Gesicht und brachte dann ein sarkastisches »So so« heraus. »Na dann, weiter. Und in welchem Zustand befindet sich die Dame?«
Grant trommelte mit den Fingern auf die Armlehne seines Sessels. »Höchstwahrscheinlich versuchter Mord.
Schwere Blutergüsse an Hals und Nacken sowie Würgemale. Heftiger Schlag auf den Kopf. Aber Linley sagt sie wird sich wieder erholen. Allerdings hat sie ihr Gedächtnis verloren. Sie kann sich weder an ihren Namen erinnern noch an das, was ihr zugestoßen ist.«
»Kann der Doktor sagen, wann sie ihre Erinnerung wiedererlangt?«
Grant schüttelte den Kopf. »Das kann keiner genau sagen. Bis die Ermittlungen zu ersten Ergebnissen geführt haben oder Miss Duvall ihr Gedächtnis zurückerlangt, wäre es aber meiner Meinung nach gut, wenn die Öffentlichkeit sie für tot hielte.«
»Wollen Sie sich um den Fall kümmern oder soll ich einen anderen Mann daransetzen?«
»Das ist mein Fall.« Grant trank den letzten Schluck Kaffee. »Ich werde mit den Verhören bei ihrem letzten so genannten Beschützer beginnen. Lord Gerard. Durchaus möglich, dass er oder ein anderer eifersüchtiger Liebhaber ihr an den Kragen wollte. Die Liste von Männern, die Vivien Duvall vor Eifersucht am liebsten erwürgen würden, ist wahrscheinlich teuflisch lang.«
Cannon verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und wurde dann gleich wieder ernst. »Ich werde jemanden zu dem Fährmann schicken, der sie gefunden hat. Und jemand sollte auch mit den Leuten sprechen,
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