Schicksalsfäden
Earl von Norbury bleiben würde. In der Zwischenzeit versuchte sich Lord Gerard nach Kräften zu amüsieren, sich die Wartezeit mit zwielichtigen Frauen, Alkohol und Wetten zu verkürzen. Sein Arrangement mit Vivien hatte ihm viele männliche Neider und eine sehr vorzeigbare Trophäe beschert. Gerald war außerdem für seinen Jähzorn bekannt, der immer dann ausbrach, wenn er etwas, das er unbedingt haben wollte, nicht bekommen konnte. So hätte er als Gentleman selbstverständlich Wett- und andere Ehrenschulden klaglos akzeptieren sollen, aber um diese Situationen von vornherein zu vermeiden, betrog und betrogener seine Gegner bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Es hieß, er lasse seine schlechte Laune an seinen Dienern aus. Kein Wunder, dass er große Mühe hatte, Personal für seine verschiedenen Anwesen zu bekommen.
Grant stieg die Treppen zu einem mit Säulen bewehrten Portal hinauf und klopfte kräftig an die Tür. Augenblicke später wurde sie geöffnet und es erschien das säuerliche Gesicht eines Butlers.
»Worum handelt es sich, wenn ich fragen darf, Sir?«
»Sagen Sie Lord Gerard, dass Grant Morgan ihn zu sprechen wünscht.«
»Es tut mir Leid, Sir, aber Lord Gerard ist leider außer Haus«, sagte der Butler, und Grant schien es, als schwinge in seiner Stimme eine gewisse Besorgnis mit. »Wenn Sie so freundlich wären, eine Karte zu hinterlassen, so sorge ich dafür, dass Seine Lordschaft sie erhält wenn er zurück ist.«
Grant musste grinsen. Er kannte dieses Spiel schon. ›Außer Haus‹ waren laut Butlern und Hausdamen alle die Herrschaften, die zwar tatsächlich im Haus waren, aber keine Lust hatten, von ihm verhört zu werden. Auf die Art hatte Grant sich noch nie abspeisen lassen.
»Ich hinterlasse keine Karten. Und jetzt gehen Sie und sagen Ihrem Herrn, dass Mr. Morgan ihn sofort sprechen will und dass er nicht nur nett zu plaudern beabsichtigt.«
Das Gesicht des Butlers blieb völlig ausdruckslos, aber man sah ihm an, dass er sich innerlich wand. Ohne einen weiteren Ton ließ er Grant an der Tür stehen und verschwand im Haus. Grant betrat die Vorhalle und schob mit dem Absatz die Tür hinter sich zu. Marmorsäulen säumten die Halle, die reich mit Stuck verziert und ganz in der Modefarbe ›Pariser Grau‹ gehalten war. Ihm gegenüber war eine Art Apsis, in der eine geflügelte Frauenfigur stand.
Grant trat näher und betrachte die Statue, seine Finger betasteten einen Flügel.
In diesem Moment betrat der Butler wieder die Halle. »Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, Sir, dass dieses äußerst wertvolle Stück zu Seiner Lordschaft Sammlung römischer Kunst gehört.«
»Griechischer Kunst offenbar«, sagte Grant trocken. »Das Original steht im Louvre in Paris, soweit ich mich erinnere.«
»Tja, also …« Der Butler war merklich verwirrt. »Wenn Sie mir also folgen möchten, Seine Lordschaft ist nun nicht mehr außer Haus.«
Grant wurde in einen Salon mit reichen Deckenmalereien geführt, an dessen Wänden die würdevollen Porträts von fünfzehn Generationen derer von Norbury hingen.
»Einen Drink für Sie, Morgan?«
Lord Gerard stand in einem grünen Morgenrock hinter Grant. Er war ungekämmt und sein Gesicht glühte vom übermäßigen Alkoholgenuss. Mit einem Kognakschwenker in der Hand steuerte er einen mächtigen Ohrensessel mit Löwenfüßen an und setzte sich vorsichtig.
Lord Gerard war gerade einmal Anfang dreißig, aber sein ungesunder Lebenswandel ließ ihn zehn Jahre älter erscheinen. Sein Äußeres war absolut durchschnittlich. Er war weder fett noch dünn, weder groß noch klein, weder gutaussehend noch hässlich. Das einzig Bemerkenswerte an seiner Erscheinung waren seine kleinen, dunklen Augen mit dem stechenden Blick.
Er deutete auf den Schwenker in seiner Hand. »Verdammt guter Armagnac«, sagte er. »Kann ich Ihnen nur empfehlen.«
»Noch nicht so früh am Tag, danke«, entgegnete Grant und schüttelte den Kopf.
»Ach, dafür ist es nie zu früh.« Gerard lachte und leerte das Glas mit der dunklen Flüssigkeit in einem Zug.
Grant sah Gerard lächelnd an, doch tief in seinem Innern war ihm nicht zum Lächeln zumute, denn er spürte etwas Böses in der Gegenwart dieses Mannes. Ganz kurz erschien ein Bild vor seinen Augen. Er stellte sich vor, wie Vivien sich Gerard hingab und ihm Vergnügen bereitete, so wie sie jedem dahergelaufenen Kerl Vergnügen bereiten würde. Denn sie war eine Hure. Grant wurde geschüttelt vor Abscheu, aber auch
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