Schicksalsfäden
sie nicht das Gleichgewicht verlor und abstürzte. Langsam und ohne einen Laut zu verursachen, tastete sie sich vorwärts.
Als sie fast im Erdgeschoss angekommen war, sah sie plötzlich eine schemenhafte Gestalt vor sich. Für einen Moment schien ihr Herz auszusetzen und ein Schrei war schon auf ihren Lippen. Keyes, dachte sie entsetzt, doch im letzten Moment erkannte sie die Gestalt als Mary, das Hausmädchen. In ihren Händen hielt sie einen Wäschekorb.
Mary war offensichtlich mindestens so erschrocken wie Victoria über die unheimliche Begegnung. Victoria hörte sie heftig nach Luft schnappen, beinahe hätte sie den Korb fallen gelassen.
»Miss Duvall? Was machen Sie denn hier auf der Dienstbotentreppe? Haben sie einen Wunsch? Kann ich Ihnen etwas bringen? Sie hätten mich doch rufen …«
Victoria schnitt ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Mary, Sie dürfen niemandem sagen, dass Sie mich gesehen haben, verstanden? Bitte, Mary das ist äußerst wichtig.« Ihre Stimme war ein eindringliches Flüstern. »Alle müssen glauben, dass ich noch in meinem Zimmer bin. Haben Sie das verstanden?«
Marys Blick nach zu schließen, schien sie an Victorias Verstand zu zweifeln. »Wollen Sie etwa raus, Miss? Aber ein Sturm zieht auf, Sie werden sich bei dem Wetter noch den Tod …«
»Kein Wort! Zu niemandem!«
»Aber wann werden Sie wiederkommen, Miss?« Jetzt lag echte Besorgnis in der Stimme des Hausmädchens.
»Wenn. Ihnen etwas zustößt und ich habe es nicht verhindert werde ich meine Stellung verlieren, dann sitze ich auf der Straße … Bitte, Miss, gehen Sie bei dem Wetter nicht raus!«
Victoria war am Ende ihrer Geduld. »Bitte, Mary, keine Fragen mehr, ich habe keine Zeit mehr. Wenn Mr. Morgan zurück ist komme ich auch wieder. Bis dahin sagen Sie zu keiner Menschenseele ein Wort. Das müssen Sie mir versprechen. Es geht um Leben und Tod.«
Mary schlug bei dem letzten Wort die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. Aber Victoria war schon an ihr vorbei weiter die Treppe runter zum Keller geeilt. Zum Glück war weder in der Küche noch im Vorratsraum einer der anderen Bediensteten. So konnte sie unbeobachtet die Hintertür erreichen. Sie riss sie auf und atmete tief die klare, kalte Luft ein. Zum ersten Mal auf ihrer Flucht hatte sie das Gefühl, dass sie es schaffen könnte.
Geduckt ging sie schnell über einen kleinen Pfad und erreichte den steinernen Bogen, der den Eingang zum Garten markierte. Im Schatten einer alten, efeubewachsenen Mauer hastete sie weiter, vorbei an einem kleinen, marmornen Springbrunnen, der im Blitzlicht kurz aufleuchtete. Immer wieder drehte sie sich um aus Angst, Keyes könne ihr vielleicht doch folgen. Hatte er ihre Flucht wohl schon bemerkt? War er bereits hinter ihr her? Vielleicht verhörte er in diesem Moment die arme Mary. Sie blickte wieder zum Haus zurück, das düster und scheinbar verlassen dalag. Nein, nichts rührte sich.
Sie erreichte das hintere Gartentor. Dahinter lag die King Street. Sie würde es bis Covent Garden schaffen. Sie lachte kurz auf, um sich Mut zu machen. Sollte Keyes doch denken, dass er sie in seiner Hand hatte. Sein Gesicht wollte sie sehen, wenn er merkte, dass sie ihm entwischt war. Aber noch war es zu früh für Triumphgefühle. Sir Ross … Sie musste Sir Ross finden.
Mit tief über das Gesicht gezogener Kapuze lief Victoria eiligen Schritts Richtung Covent Garden. Immer wieder rutschte sie auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster aus. Die Laternen, die man bereits angezündet hatte, warfen Lichtkegel auf die vor Nässe glitzernde Straße. An Straßenecken saßen, standen, tanzten Musikanten, versuchten mit lustigen Melodien ein paar Münzen zu verdienen und der Härte des Lebens zu trotzen. je näher Victoria Covent Garden kam, desto stärker wurde der Verkehr. Noch viele Droschken und Kutschen waren unterwegs. Die Luft war erfüllt von Pferdegetrappel, dem Rumpeln der Räder und den lauten Rufen der Kutscher. Das Leben um sie herum gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, auch wenn sich um diese Zeit normalerweise keine Dame mehr allein auf die Straße traute.
Es regnete zwar immer noch leicht aber der Sturm schien sich zurückzuhalten, als warte er auf ein geheimnisvolles Zeichen.
Jetzt war es nicht mehr weit sagte sich Victoria. Nur noch durch den Park dort, nur nicht stehen bleiben, nur keine Aufmerksamkeit erregen. Einfach immer weitergehen und schon bald würde sie in Cannons Büro in Sicherheit sein …
Keyes
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