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Schicksalsfäden

Schicksalsfäden

Titel: Schicksalsfäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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mir …«
    Und dann traf es sie wie ein Schock: Die Nacht als man sie ermorden wollte … als ein Mann mit silbernem Haar sie ermorden wollte … die ausdruckslosen, eiskalten Augen … die Finger an ihrem Hals, die erbarmungslos zudrückten … dann die nasse, erstickende Grabeskälte, die sie in die schwarze unendliche Nacht zuziehen drohte Mr. Keyes hatte versucht sie zu ermorden. Der Mann, der unten auf sie wartete. Der Mann, der es sicher wieder versuchen würde. Gleich, dort draußen im Sturm.
    Für eine Sekunde wuchsen noch andere Zweifel in ihr: Hatte Grant sie verraten? Warum hatte er diesen Mann zu ihrem Schutz geschickt?
    Doch ihr Herz wusste es besser. Niemals hätte Grant das getan. Auch er war getäuscht worden.
    Mit der Erinnerung an die schreckliche Nacht des Mordversuchs kam noch eine schlagartige Erkenntnis: Sie wusste wieder, wer sie war: »Victoria!«, sagte sie laut. »Ich bin Victoria, nicht Vivien!« Stumm formten ihre Lippen wieder und wieder diesen Namen. Victoria. Dieser Name wirkte wie ein Schlüssel zu den geheimen Kammern ihrer Erinnerung. Alles fiel ihr plötzlich wieder ein. Das Cottage und die vielen Rosen, das Gefühl der Geborgenheit lange Winternächte mit Büchern und ein Sommerausflug an die Küste … die Beerdigung ihres Vaters …
    Sie presste die Augen zusammen und lehnte die Stirn an die kühle Wand. Ihr Vater. Er war ein gebildeter, sanfter Mann gewesen, der immer die Welt der Bücher der rauen Wirklichkeit vorgezogen hatte. Plötzlich wusste sie auch wieder, dass sie bisher nie einen Mann im romantischen Sinn geliebt hatte, begehrt hatte. Seit dem Verschwinden ihrer Mutter hatte sie sich um ihren Vater gekümmert … und um ihre Schwester, die sich allerdings nur selten blicken ließ. In dieser kleinen Welt war kein Platz für einen anderen Mann gewesen. Und von ihrer Schwester hatte Victoria schon früh gelernt dass die Liebe ein gefährliches Spiel war. Also zog sie die Sicherheit des Heims vor.
    Erst die Schwierigkeiten ihrer Schwester hatten sie aus ihrem Schneckenhaus gelockt … und in tödliche Gefahr gebracht.
    So glücklich Vivien auch war, ihr Gedächtnis wiedergefunden zu haben, so sicher war sie auch, dass der Mann am Fuß der Treppe ihr niemals glauben würde, dass sie nicht Vivien Duvall war. »Oh, Vivien«, flüsterte sie, »wenn ich das hier überlebe, wirst du mir eine Menge zu erklären haben.«
    Was sollte sie tun? Am liebsten hätte sie sich einfach in ihrem Bett verkrochen und die Bettdecke über den Kopf gezogen. Aber Keyes würde natürlich nicht aufgeben. Er würde sich Einlass verschaffen und sie trotzdem mitnehmen. Würde man ihr glauben, wenn sie erklären würde, dass er versucht hatte, sie zu ermorden? Würde man einer stadtbekannten ruhlosen Prostituierten glauben oder dem ehrenwerten Bow-Street-Runner, dem selbstlosen Kämpfer für Recht und Ordnung? Keine Frage, sie musste etwas unternehmen und die Dinge selbst in die Hand nehmen, sonst wäre sie verloren.
    Wo würde Keyes sie wohl hinbringen, fragte sich Victoria. Sicher nicht in die Bow Street. Er würde sie an irgendeinen finsteren Ort verschleppen und sie grausam töten. Daran bestand kein Zweifel. Sie brauchte Hilfe, aber Grant war nicht da. Wem konnte sie sonst noch vertrauen? Natürlich: Sir Ross. Sie musste tatsächlich in die Bow Street, aber ohne Keyes. Sie musste Sir Ross finden und ihm alles erzählen. Leider wusste sie gar nicht genau, wo das Revier war. Irgendwo in der Gegend um Covent Garden, glaubte sie. Aber das war das kleinere Problem. Sie musste erst mal an Keyes vorbei aus dem Haus entkommen. Dann würde sie schon jemanden fragen können. Jeder kannte schließlich das Bow-Street-Revier.
    Bevor weitere Zweifel in ihr aufsteigen konnten, entschloss sie sich zu handeln und sprang auf. Zuerst holte sie eine dunkelgrüne Regenpelerine mit weiter Kapuze aus dem Schrank. Niemand würde sie damit in der Nacht erkennen.
    Außerdem zog sie hohe feste Stiefel an. Dann löschte sie die Lichter und schlich zur Zimmertür.
    Sie musste sich zwingen, langsam und ruhig zu handeln, denn der Fluchtinstinkt war stark. Weg nur weg! So schnell wie möglich! Aber das wäre Selbstmord. Kaltblütigkeit war jetzt gefragt.
    Im Flur wandte sie sich nicht zur Haupttreppe, sondern zur Hintertreppe, welche die Bediensteten tagsüber benutzten. Es war eine schmale, gusseiserne Wendeltreppe. Die Stufen waren im schwachen Licht kaum zu sehen, und Victoria musste bei jedem Schritt aufpassen, dass

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