Schicksalsfäden
wollte. Sie hat mich angewiesen, niemandem etwas zu sagen. Sie sagte, es ginge um Leben und Tod. Und da hab ich mir solche Sorgen gemacht und und hab, Mrs. Buttons davon erzählt.«
Ein pulsierender Kopfschmerz zwang Grant die Augen zu schließen. »Um Leben und Tod?«, sagte er mit schwerer Stimme. Sie muss erkannt haben, in welcher Gefahr sie schwebt dachte er, und deshalb war sie geflohen.
Mrs. Buttons trat vor, stellte sich vor Mary und strich sich unentwegt die Hände an ihrer Schürze ab. »Also, na ja, Mr. Keyes hat schließlich gleich nach seiner Ankunft darauf gedrängt, Miss Duvall aufs Revier zu bringen, weil sie dort sicherer sei. Aber er hat sich sehr seltsam benommen, muss ich sagen. Fast unhöflich. Jedenfalls hab ich ihn in all den Jahren, seit ich ihn kenne, nie so gesehen. Ich habe gleich bemerkt, dass Miss Duvall nicht mit ihm mitgehen wollte. Also hat sie sich entschuldigt, um andere Schuhe anzuziehen, und während Mr. Keyes und ich hier unten auf sie gewartet haben, hat sie wohl unbemerkt – nun, fast unbemerkt – das Haus durch die Hintertür verlassen. Nur verständlich, finde ich, dass sie in ihrer Lage Fremden nicht traut.«
»Vom Fenster aus konnte ich sehen, dass sie Richtung Covent Garden gelaufen ist. Mr. Keyes war kurz hinter ihr und hat sie bestimmt schon eingeholt.«
»Bow Street«, murmelte Grant. »Sie will aufs Bow-Street-Revier.« Logisch, dachte Grant. Für Victoria musste das wie der einzig sichere Ort erscheinen. Er packte einen der Lakaien am Schlafittchen: »Du sattelst ein Pferd und reitest so schnell du kannst zur Bow Street. Du sagst Sir Ross, er soll sofort alle verfügbaren Männer zusammenrufen und zum Covent Garden schicken. Er soll die ganze Gegend abriegeln und durchsuchen lassen.
Wir müssen Keyes und Victoria finden. Und beeil dich, Kerl, ich will, dass dein Arsch in spätestens fünf Minuten bei Sir Ross im Büro ist verstanden?«
»Jawohl, Sir!«, rief der Lakai und war schon im Laufschritt unterwegs zu den Stallungen.
Auch Grant eilte hinaus. In Sekunden war er vom strömenden Regen vollkommen durchnässt aber das spürte er gar nicht. Ein neues Gefühl hatte Besitz von ihm ergriffen, ein Gefühl, gegen das er sich nicht wehren konnte: Angst.
Nie hatte er bisher um sich Angst gehabt schließlich hatte er sich immer auf seine körperliche Stärke und seine Intelligenz verlassen können. Doch jetzt hatte er Angst um einen anderen Menschen. Angst geboren aus bedingungsloser Liebe und das war die schlimmste aller Ängste. Was sollte er bloß tun, wenn Victoria etwas zustieß? Wenn er zu spät käme?
So schnell er konnte, rannte er in Richtung Covent Garden. Vorbei an Droschkenpferden, die Wasser und Dreck aufspritzen ließen. Immer wieder rempelte er Menschen an, die ihm Beschimpfungen nachriefen, die er gar nicht hörte., Er konnte nur an eines denken: Ich darf nicht zu spät kommen! Ich darf nicht zu spät kommen! Diese Angst, Victoria zu verlieren, schnürte ihm die Brust zu und wütete als Schmerz hinter seiner Stirn. Es war, als würde er Feuer statt Luft atmen.
Er erreichte den Friedhof von St. Paul’s. Während er an den Gräbern vorbeilief, stieg ihm der Duft des Todes und der Verwesung von jahrhundertealten Gebeinen entgegen. Er versuchte, nicht an Tod, an, Abschied zu denken.
Dann war endlich Covent Garden vor ihm. Der Platz wimmelte von Gefährten und Menschen, Dieben, Schlägern, Betrügern und Halsabschneidern – jeder Einzelne wäre zweifellos an einer schönen, einsamen rothaarigen jungen Dame interessiert. Wenn er daran dachte, stieg wieder Panik in ihm hoch. Er musste sie finden! Aber wie?
»Victoria, wo bist du nur!«, flehte er leise in seiner wachsenden Verzweiflung. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte die Frage herausgebrüllt.
Victoria blieb kurz stehen, um zu verschnaufen und sich das Regenwasser aus dem Gesicht zu wischen. Dann rannte sie weiter eine Parallelstraße zur Russell entlang. Hätte sie nicht längst auf die Bow Street treffen müssen?
Ein eiskalter Schauder lief ihr den Rücken herunter, als sie erkannte, dass sie in die falsche Richtung lief. Sie drehte um und lief weiter. Immer schwerer hingen ihr die Kleider am Leib. Die schon völlig durchnässte Pelerine wickelte sich immer wieder um ihre Beine, mehr als einmal drohte sie hinzufallen. Das ging zu langsam, dachte sie.
Auf die Art würde sie Keyes nicht abschütteln können. Im Laufen schaute sie sich um. Wie überall in London, versteckten sich
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