Schicksalspfade
erfreut hatte.
Toms Bestzeit betrug 2’22”87. Er musste über sich selbst hinauswachsen, um den ersten Platz zu belegen.
Er wartete in der Starthütte, ging in die Hocke und spannte die Muskeln, dazu entschlossen, sich der Lage gewachsen zu zeigen. Die Kälte verschwand und er war sich immer weniger der Personen in seiner Nähe bewusst. Während der letzten Sekunden vor dem Start schien er auf dem Gipfel des Berges völlig allein zu sein.
Dann sprang er nach vorn, schob mit den Stöcken nach und duckte sich – Schuhe parallel zueinander, Knie und Füße auseinander, die Hände vor dem Körper aneinander gepresst –, um einen möglichst geringen Luftwiderstand zu bieten. Er fühlte einen Adrenalinschub, wie immer, wenn ein solcher Abfahrtslauf begann.
Richtungsfahnen säumten die Strecke, rot für die linke Seite und grün für die rechte. Aber Tom kannte sie in- und
auswendig. Während der ersten fünfhundert Meter über einen um sechzehn Grad geneigten Hang konnte er gebeugt bleiben, um vor den ersten Kurven möglichst schnell zu werden. Sie begannen kurz nach dem ersten Steilhang, der ein Gefälle von einundvierzig Grad hatte – dort erreichten die Läufer ihre Höchstgeschwindigkeit.
Es war einer der seltenen Tage, an denen Tom völlig im Skilaufen aufging. Er spürte weder Kälte noch Wind, ließ sich von nichts in seinen Augenwinkeln ablenken. Die Skier und Stöcke erschienen ihm wie natürliche Erweiterungen seines Körpers und er kontrollierte sie mühelos. Er fühlte sich beweglich, als besäße er keine Gelenke.
Und gleichzeitig fühlte er Kraft. Seine Beine waren stark, so stark wie die Brunos, unermüdlich und bereit, mit allen Herausforderungen fertig zu werden.
Tom näherte sich dem ersten »Buckel«, der sich wie eine Sprungschanze auswirkte. Er wollte so wenig Zeit wie möglich in der Luft verbringen, weil dadurch die Gefahr bestand, wertvolle Zehntelsekunden zu verlieren. Es kam darauf an, vorher zu springen, und zwar genau zum richtigen Zeitpunkt: zu früh – und er landete, bevor er den Buckel hinter sich gebracht hatte; zu spät – und er wurde noch höher in die Luft katapultiert.
Kurz vor dem Rand der Unebenheit zog Tom die Beine an.
Die Skier lösten sich vom Schnee und er flog ganz dicht über den Buckelrand hinweg. Unmittelbar dahinter streckte er die Beine wieder, um den Kontakt mit dem Schnee
wiederherzustellen. Aus einem Reflex heraus beugte er sich nach vorn, um den Aufprall abzufedern.
Ein Teil seines Bewusstseins schickte ein stummes Merci an Odile, die ihm dieses Manöver gezeigt hatte, denn dadurch verlor er praktisch überhaupt keine Zeit. Fast sofort sah er die ersten Tore.
Kontrolltore dienten dazu, die Geschwindigkeit zu
verringern. Orangefarbene Fahnen markierten die mindestens acht Meter breite Passage. Die Tore zwangen den Läufer zu einigen Kurven, was die Geschwindigkeit herabsetzte, und er musste seine geduckte Haltung aufgeben, um eine bessere Balance zu erreichen und rascher die notwendigen
Richtungswechsel einzuleiten.
Als Tom die ersten Tore hinter sich brachte, begriff er, dass ihm am Skilaufen auch die Anstrengung gefiel. Er hatte Hoverboards ausprobiert: Sie machten Spaß und zweifellos erforderte der Umgang mit ihnen Feingefühl. Doch ein
Wettrennen mit Skiern war Arbeit. Er brauchte seine ganze Kraft, um die Skier im Schnee zu verkanten, damit er nicht einfach fortrutschte oder vielleicht sogar stürzte.
An diesem besonderen Tag zeichnete sich jeder einzelne Richtungswechsel durch glatte Eleganz aus. Die Kanten der Skier gruben sich in den Schnee, immer gerade tief genug, um Tom Halt und Stabilität zu geben, ohne ihn Zeit zu kosten. Er schien die ganze Zeit über zu fliegen. Er spürte keinen Wind in dem Sinne. Ein unglaubliches Hochgefühl begleitete ihn, während er durch die Luft jagte, ließ ihn eins werden mit Himmel und Schnee. Alles war perfekt; nicht der kleinste Fehler unterlief ihm.
Er ahnte – nein, er wusste –, dass er persönliche Bestzeit fuhr.
Vielleicht gelang es ihm nicht, schneller zu sein als der Österreicher, aber am Ende dieses Tages würde er mit Fug und Recht sagen können, sein Bestes gegeben zu haben.
Was als Nächstes geschah, ließ sich kaum erklären. Aus keinem ersichtlichen Grund blickte er für einen
Sekundenbruchteil zu den Zuschauern an der Strecke. Es waren nicht sehr viele und vielleicht fiel ihm die einzelne Gestalt deshalb auf.
Sie trug Starfleet-Winterkleidung. Rotblondes Haar zeigte sich unter
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