Schicksalspfade
wecken. Er war ein großväterlicher Mann mit dichtem weißem Haar, einem gepflegten weißen Bart und hellblauen Augen. Tom mochte ihn sofort, spürte dessen unerschöpfliche Geduld und Neigung, die Leistungen seiner Schüler nicht allzu streng zu bewerten. Unter solchen Umständen fiel es ihm leichter, diesen ungewöhnlichen Sport auszuprobieren, denn er brauchte nicht zu befürchten, sich vor Islicker zu blamieren.
Nur wenige Kinder ließen sich auf diese ungewöhnliche Aktivität ein – die meisten wollten nichts von den seltsamen Brettern und Stöcken wissen. Als Tom zum ersten Mal in die Stiefel schlüpfte, fühlte er sofort Zuversicht und wusste: Er begann mit etwas, das ihm großen Spaß machen würde.
Die erste Abfahrt führte über einen Hang mit einer Neigung von nicht mehr als fünf oder sechs Grad, aber der junge Tom empfand es als sehr aufregend. Die kalte Luft im Gesicht, der weiße Schnee, das Grün der Kiefern vor dem Hintergrund des blauen Winterhimmels, der Duft der Koniferen – das alles zusammen erfüllte den Jungen mit Euphorie.
Nach nur einem Tag brachte Islicker ihn zu den
schwierigeren Hängen und beobachtete voller Bewunderung, wie sich Tom so in die Kurven legte, als liefe er schon seit Jahren Ski. Islicker bezeichnete ihn als Naturtalent. Man könnte ihm nichts beibringen, meinte er, nur die bereits vorhandenen Fähigkeiten wecken und verbessern.
Noch in der ersten Woche nahmen sie sich die steilsten Hänge vor und liefen dort Ski, wo vor ihnen noch niemand gewesen war. Islicker wies seinen Schüler auf die Gefahren von Lawinen hin und erklärte ihm, wonach es Ausschau zu halten galt. Tom nahm das alles in sich auf und folgte dem Schweizer, Schwung für Schwung.
Im Verlauf der nächsten acht Jahre brachte ihn seine Mutter sieben weitere Male an jenen Ort und nur dort bot sich ihm Gelegenheit zum Skilaufen. Wenn sie nach Portola Valley zurückkehrten, verspürte er immer den Wunsch, seinem Vater alles zu erzählen, aber irgendein Instinkt sagte ihm, dass sein Vater nicht viel von diesem alten Sport halten würde. Deshalb schwieg er und konzentrierte sich auf Parrises Squares, eine Sportart, an der sein Vater großen Gefallen fand.
Die heimlichen Experimente mit dem Skilaufen gaben Tom das Instrument, seinen Vater herauszufordern, obwohl er das natürlich nicht sofort auf diese Weise sah. Erst später, nach dem Zwischenfall im Wega-System, dachte er an die
Ereignisse zurück und begann zu verstehen, warum es eine so berauschende Erfahrung für ihn gewesen war, sich der Ski-Gruppe anzuschließen. Er nahm an einem Drama teil, das seit der Antike – seit Ödipus – bekannt war.
Die Ski-Gruppe der Akademie präsentierte sich zunächst als bunt zusammengewürfelter Haufen, der aus sechs Männern und vier Frauen bestand, ausnahmslos Menschen –
Extraterrestrier hielten diesen Sport für zu bizarr. Nur ein Mitglieder der Mannschaft lief besser Ski als Tom: Odile Launay, eine junge Frau aus Beziers in Südfrankreich. Ihr Vater war einer jener europäischen Ski-Enthusiasten, die den alten Sport am Leben erhalten hatten. Odile war an den Hängen der Pyrenäen aufgewachsen und Tom kannte
niemanden, der anmutiger Ski lief als sie.
Sie hatte wundervolle grüne Augen – zwei große Smaragde in einem ovalen, perlmuttweißen Gesicht – und die Farbe ihres langen Haars changierte zwischen Blond und Rot. Odile bezeichnete es scherzhaft als »jaune commes les fraises«, als Erdbeerblond.
Tom war entschlossen, sich ihr gegenüber auf die
kameradschaftliche Freundschaft zwischen
Mannschaftsmitgliedern zu beschränken und keine tieferen Gefühle zu entwickeln. Er wollte ihren Stil bewundern, ihre Entschlossenheit am Hang respektieren und sich über ihre aufmerksamen Analysen der Trainingsläufe freuen.
Aber er wollte nicht an die Augen denken oder an die vollen rosaroten Lippen, auf die sie manchmal biss, wenn sie sich konzentrierte. Dann hinterließen ihre weißen Zähne Abdrücke, die manchmal erst nach einigen Minuten verschwanden.
Solche Dinge wollte er nicht einmal bemerken.
»Du könntest einige Zehntelsekunden schneller sein, wenn du beim Sprung besser aufpasst«, sagte sie mit ihrem reizenden Akzent, dem Tom stundenlang zuhören konnte. »Du bist so stur, Tommy. Pourquoi?«
»Vielleicht brauche ich eine starke Frau, die mich auf meine Fehler hinweist.« Tom lächelte und stellte zufrieden fest, dass Odile nicht den Blick abwandte, sondern nur ein wenig die Lider senkte, um ihn
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