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Schicksalspfade

Schicksalspfade

Titel: Schicksalspfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeri Taylor
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wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er ihre Stimme hörte. Tatsächlich wusste er nachher nicht einmal, ob er wirklich erwacht war. Aber ob er nun schlief oder wachte: Er hörte Kes. Als er die Augen öffnete, sah er die Dunkelheit in der Unterkunft, die Umrisse seiner schlafenden Freunde, und eine Zeit lang starrte er in die Finsternis.
    Vielleicht war alles nur ein Traum.
    Aber wenn das stimmte… Er konnte sich nicht daran
    erinnern, jemals zuvor einen so intensiven, realistischen Traum gehabt zu haben. Ganz deutlich vernahm er Kes’ Stimme und musste der Versuchung widerstehen, ihr laut zu antworten. Er lag still und ließ alles geschehen. Ein seltsames Empfinden stellte sich ein. Er fühlte sich von Bildern davongetragen, so wie die Wellen eines schnell fließenden Baches ein
    Spielzeugboot forttrugen.
    Vor dem inneren Auge sah er die unterirdische Stadt der Ocampa, jenes Wunder, das er mit Kes besucht hatte, nicht lange nach ihrer ersten Begegnung. Er gewann den Eindruck, durch die Stadt zu fliegen, bestaunte ihre gewaltigen Ausmaße und die Schönheit der Gebäude, die sich über viele Kilometer hinweg durch die tiefen Höhlen des Planeten erstreckten.
    Und die ganze Zeit über erklang Kes’ Stimme hinter Neelix’
    Stirn, sanft, ruhig und wohlklingend. Einzelne Worte und voneinander getrennte Bedeutungsinhalte konnte er nicht erkennen, aber trotzdem war die Stimme irgendwie imstande, mit ihm zu kommunizieren.
    Sein Flug endete am großen Versammlungsgebäude der
    Ocampa und dort blickte er auf ein kleines Kind hinab. Das lange blonde Haar reichte dem Mädchen über den Rücken, als es zu einem Ocampa-Mann aufsah, der wie in die Ecke
    gedrängt wirkte.
    Der Name des Mädchens lautete Kes.
    12
    »Warum?« Kes sah zu ihrem Vater auf, stand breitbeinig da, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Ihre geschürzten Lippen wiesen auf Entschlossenheit hin. Sie hatte eine Frage gestellt und wollte sich erst von der Stelle rühren, wenn sie eine befriedigende Antwort erhielt.
    Ihr Vater erwiderte den Blick, sein Gesicht eine Mischung aus Verwirrung, Ärger und Bewunderung. Kes konnte diese Gefühle nicht identifizieren, denn sie war noch zu jung, um das komplexe Netzwerk aus Emotionen zu verstehen, das
    manchmal in einer einzigen Person existierte. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte ihres Wachstumszyklus hinter sich gebracht, eine Zeitspanne, die – wie sie später erfuhr – neun menschlichen Monaten entsprach. Sie war noch immer auf sich selbst fixiert, auf ihre Bedürfnisse und Wahrnehmungen, auf ihre Fragen.
    »Kes«, begann ihr Vater in einem Tonfall, den sie bereits kannte, »du musst dich mit der Tatsache abfinden, dass es nicht auf alle Fragen Antworten gibt.«
    »Warum?« Was auch immer Benaren sagte: In den meisten Fällen führte es zu einer neuen Frage und häufig lautete sie schlicht »Warum?«.
    Kes’ Vater atmete tief durch und sah sich nach einem
    möglichen Retter um. Sie standen auf dem Hof vor dem
    Versammlungsgebäude, einem riesigen, prächtigen Bauwerk, das der Beschützer vor vielen Generationen für die Ocampa errichtet hatte und das eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte. Hier wurden die täglichen Rationen ausgegeben; es gab Unterhaltung, Gruppen versammelten sich. Muße und Ordnung bestimmten den Rhythmus des Ocampa-Lebens. Niemand
    beeilte sich. Niemand schob oder drängelte. Niemand wendete mehr Kraft auf als unbedingt nötig.
    Der Eindruck von Mattigkeit hatte Kes zu einer ihrer ersten Fragen herausgefordert, als sich ihr eigener ruheloser Geist zu entfalten begann. »Warum sitzen alle so viel herum?«, hatte sie bei einem der frühen Abstecher zum Versammlungsgebäude gefragt.
    »Es ist eben so«, erwiderte ihr Vater und lernte daraufhin die Beharrlichkeit seiner Tochter kennen.
    »Das ist keine Begründung«, sagte sie voller Überzeugung, sah ihren Vater an und wartete ganz offensichtlich auf eine befriedigendere Antwort.
    Doch sie wartete vergeblich. Jeder Versuch, eine
    überzeugende Antwort zu geben, führte zu einer weiteren Frage.
    »So ist unser Leben eben, Kes. So verhalten sich die Leute.«
    »Warum muss unser Leben so sein? Wer bestimmt das?«
    »Niemand bestimmt es. Es war immer so.«
    »Aber wie begann es? Wer waren die ersten Leute, die sich auf diese Weise verhielten?«
    »Das weiß niemand. Es liegt lange, lange zurück.«
    »Aber woher weißt du dann, wie es geschehen ist?«
    Benaren seufzte zum ersten, aber nicht zum letzten Mal. »Wir nehmen an,

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