Schicksalspfade
dass es so gewesen ist. Es ergibt einen Sinn.«
»Aber vielleicht gibt es auch andere Dinge, die einen Sinn ergeben könnten. Vielleicht waren die Leute vor langer Zeit anders und dann geschah etwas, das sie änderte.«
»Zum Beispiel?«
Kes biss sich auf die Lippe und versuchte etwas Seltsames zu verstehen. Es ging dabei um etwas, an das sie instinktiv glaubte, obgleich es keinen konkreten Grund dafür gab.
»Ich weiß nicht. Etwas, das dafür sorgte, dass sich die Leute nicht mehr um die Dinge scherten.«
Dieses Gespräch hatte vor einigen Monaten stattgefunden, ohne ein zufrieden stellendes Ende zu erreichen. Derzeit ging es Kes um ein anderes Thema, das sie außerordentlich
faszinierend fand: um den Beschützer.
In ihrem kurzen Leben hatte sie viele Fragen über dieses geheimnisvolle Wesen gestellt, das die meisten Ocampa sehr verehrten, und nicht eine einzige davon war überzeugend beantwortet worden. Als sie heute mit ihrem Vater in der Schlange der Wartenden stand, um ihre Rationen in Empfang zu nehmen, kam sie erneut darauf zu sprechen.
»Wenn der Beschützer ein Heim für uns baute, im Innern der Welt, so muss er einen Grund dafür gehabt haben. Interessiert sich denn niemand dafür?«
»Die meisten Leute sind ihm für seine Großzügigkeit
dankbar. Er gab uns unser Zuhause. Wir erhalten Nahrung, Energie und Wasser von ihm – alles verdanken wir ihm.«
»Warum verdanken wir ihm alles? Er hat entschieden, uns zu helfen. Dafür muss er einen Anlass gehabt haben.«
»Wie ich dir schon sagte: Niemand weiß, was ihn dazu
bewogen hat. Aber es wäre falsch, ihm für seine Hilfe nicht dankbar zu sein.«
Kes dachte darüber nach, während sie sich langsam, Schritt für Schritt, der Ausgabe näherten. Sie war ungeduldig, wie immer. Es dauerte ihr immer zu lange, nach vorn zu gelangen, zur Ausgabe der Rationen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, diesen Vorgang besser zu organisieren, damit man dabei nicht so viel Zeit verlor – Zeit, die man anderen Dingen widmen konnte. Interessanteren Dingen.
Interessantere Dinge, als vor den Unterhaltungsschirmen zu hocken, die dauernd irgendwelche beruhigenden Bilder
zeigten. Die meisten Ocampa gaben sich damit zufrieden, während des größten Teils des Tages dazusitzen und sich wie benommen beschauliche Bilder anzusehen. Kes fand das
unerträglich. Schon nach wenigen Minuten langweilte sie sich, verließ ihren Platz und eilte über den Hof des
Versammlungsgebäudes, sehr zur Verwunderung und
manchmal auch zum Ärger der anderen.
Als sie nun in der Schlange standen, fielen Kes neue Fragen ein. »Vater, warum hat der Beschützer unser Heim hier gebaut, im Innern der Welt?«
»Weil wir hier sicher sind.«
»Sicher vor was?«
»Vor unseren Feinden.«
»Wer sind unsere Feinde?«
»Ihre Namen kennen wir nicht. Aber sie würden uns die Energie und das Wasser nehmen.«
»Warum?«
»Weil sie beides brauchen.«
»Warum?«
»Sie haben nicht so viel davon wie wir.«
»Warum?«
»Sie haben einfach nicht so viel.«
»Warum?«
»In deinem Alter sollte man sich über solche Dinge keine Gedanken machen.«
Daraufhin stemmte Kes die Fäuste in die Hüften und weigerte sich, einen weiteren Schritt zu gehen, solange sie keine Antwort bekam.
»Geh weiter, Kes. Hinter uns stehen noch andere Personen in der Schlange.«
»Ich bleibe hier stehen, bis du mir antwortest.«
»Du musst dich mit der Tatsache abfinden, dass du zu jung bist, um über gewisse Dinge Bescheid zu wissen.«
»Nein, damit muss ich mich nicht abfinden. Ich möchte Antworten auf meine Fragen.«
Benaren wandte sich an die Leute hinter ihnen. »Gehen Sie an meiner Tochter vorbei«, sagte er. »Sie will hier stehen bleiben.«
Verärgert beobachtete Kes, wie die Wartenden an ihr
vorbeischritten. Ihr Vater folgte ihnen, ließ sie allein.
Bestimmt rechnete er damit, dass sie ihm folgte, und das bestärkte Kes in ihrer Entschlossenheit. Sie rührte sich nicht von der Stelle, als sich die lange Schlange an ihr vorbeiwand, in Richtung der Ausgabestellen.
Als Benaren seine Ration erhalten hatte, kehrte er zu Kes zurück, die noch immer an ihrem Platz stand. »Komm, Kes.
Deine Mutter wartet auf uns.«
»Ich habe dir gesagt, dass ich hier stehen bleibe, bis du mir Antwort gibst«, erwiderte das Mädchen fest.
»Ich habe dir so gut wie möglich geantwortet und lehne es ab, mich weiter manipulieren zu lassen.«
»Na schön. Ich bleibe bis in alle Ewigkeit hier.«
Benaren seufzte und wandte sich
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