Schicksalspfade
verstehen, dass er uns vor den Kazon schützen würde. Es war ein Versprechen.
Er baute diese wundervolle Stadt für uns, im Innern des Planeten, und stellte uns unbegrenzt Energie und Wasser zur Verfügung. Das war vor langer Zeit und er hat sein
Versprechen bis jetzt gehalten.«
Kes konnte ihre Fragen kaum mehr für sich behalten, doch zuerst wollte sie sicher sein, die ganze Geschichte gehört zu haben. »Ist das alles?«, fragte sie atemlos vor Aufregung.
Ihre Mutter nickte und daraufhin legte Kes los. »Woher kam der Beschützer? Was hat es mit der Katastrophe auf sich, die das Klima veränderte? Wie lange dauerte es? Warum sind die Kazon so böse? Was ist mit ihnen passiert? Wie kamen wir hierher? Ist irgendwann einmal jemand an die Oberfläche zurückgekehrt?« Sie schnappte nach Luft, als weitere Fragen in ihr entstanden. Ihre Mutter lächelte und hob die Hand.
»Ich habe dir alles gesagt, was wir wissen. Wenn ich deine Fragen beantworten könnte, so wäre ich gern dazu bereit. Doch die Dinge, nach denen du fragst, gerieten in Vergessenheit.
Wir wissen nur, dass wir auch weiterhin Energie bekommen.
Und dass uns die Kazon hier unten nie belästigt haben.«
Kes lehnte sich zurück, während ihre Gedanken rasten.
Immer wieder betrachtete sie die verblüffenden Details der Geschichte in Gedanken von allen Seiten. Es war zum
Verrücktwerden: Jedes Element der Geschichte führte zu einer Serie von endlosen Fragen, die sich offenbar nicht beantworten ließen. Kes glaubte, genug Fragen für den Rest ihres Lebens zu haben, aber es gab keine Antworten. Oder?
»Existieren keine Aufzeichnungen? Hat niemand etwas
aufgeschrieben oder so? Warum ist uns unsere eigene
Geschichte unbekannt?«
»Von irgendwelchen schriftlichen Aufzeichnungen weiß ich nichts«, entgegnete Martis. »Die Geschichte ist mündlich von Generation zu Generation überliefert worden.«
»Unglaublich. Warum hat niemand daran gedacht,
Aufzeichnungen anzufertigen?«
»Ich weiß es nicht. Man hat einfach darauf verzichtet.«
Diese Art von Antwort verabscheute Kes. Es war eigentlich gar keine Antwort. Damit konnte sie überhaupt nichts
anfangen.
»Hat jemals jemand versucht, an die Oberfläche
zurückzukehren und festzustellen, wie es dort aussieht? Wissen wir, ob die Kazon überhaupt noch da sind? Vielleicht könnten wir alle zurück.«
»Warum ein Risiko eingehen? Hier unten sind wir sicher und haben alles, was wir brauchen.« Martis stand auf, ein Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war. »Du bist bestimmt hungrig. Wir haben einen Teil der Rationen von gestern Abend für dich aufgespart. Komm.«
Kes folgte ihrer Mutter und ahnte, dass die Dinge von nun an nie wieder so sein würden wie vorher. Sie hatte Wissen gekostet und war süchtig danach geworden. Alles in ihr drängte danach, mehr zu erfahren.
Kurz nach dem Ende ihres Wachstumszyklus lernte Kes
Daggin kennen. Der hübsche Junge war nur wenig älter als sie, lächelte gern und hatte einen wachen, agilen Verstand. Er fiel ihr in dem Hof des Versammlungsgebäudes auf, als er sie ansah, und sie erwiderte sein Lächeln. Darin schien Daggin eine Art Signal zu sehen, denn er eilte zu ihr und stellte sich vor.
Das fiel ihr sofort an ihm auf: Er eilte zu ihr. Kes interessierte sich sofort für jemanden, der sich schneller bewegte als die meisten anderen Ocampa. Sie sollte bald erfahren, dass Daggin in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich war. Er gewann schon bald einen formenden Einfluss auf ihr junges Leben.
»Möchtest du die Farm sehen?«, fragte er, kaum hatte sie ihm ihren Namen genannt. Die Frage weckte ihre Neugier – was war eine Farm? Dieses Wort hatte sie noch nie gehört.
Daggin führte sie fort vom Versammlungsgebäude und, wie Kes verblüfft feststellte, aus der Stadt hinaus. Ihr stockte der Atem, als sie begriff, dass sie die Stadtgrenzen hinter sich zurückließen und durch Bereiche der Höhlen schritten, die sie überhaupt nicht kannte.
»Wo sind wir hier? Kommst du oft hierher? Woher weißt du von diesen Kavernen?«
»Diese Tunnel erstrecken sich überall am Rand der Stadt.
Zum ersten Mal bin ich kurz vor Ende meines
Wachstumszyklus hierher gekommen. Meine Mutter nahm
mich mit. Sie hat Freunde, die beschlossen, eine Farm einzurichten.«
Kes war fasziniert. Daggin hatte ihre Fragen tatsächlich beantwortet. Zwar waren sofort weitere in ihr entstanden, aber sie gab sich damit zufrieden, zu schweigen und die unvertraute Umgebung zu beobachten. An den
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